Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
die so genannten Stupas, und umgab sie mit Tempelanlagen. Wallfahrten zu den Stupas, das Umschreiten
des Grabhügels, Blumenopfer, Gold und Silber, Perlenschnüre, dem Buddha übereignet, galten als unübertreffliches Verdienst.
Freilich, gute Werke allein genügten nicht, das Nirwana zu erlangen. Das erforderte mönchisches Leben, Versenkung und Erleuchtung.
Doch gute Werke schafften eine bessere Ausgangslage für die nächste Wiedergeburt. Amidas Paradies wäre jedoch auf dem Weg
eigener Verdienste unerreichbar geblieben, hätte er nicht, das erklärten die Lehrer des Reinen Landes, in seinem Leben als
Buddha-Anwärter, als Bodhisattva, so überreiche Verdienste erworben, dass er damit das schmale Konto der Gläubigen auffüllen
konnte. Der rechte Glaube an ihn setzte diesen Verdiensttransfer in Gang, und damit war das Heilsgut plötzlich für jedermann
erreichbar.
Shinran, der japanische Mönch, erfuhr die Gnade durch den »Buddha des Westens« persönlich. Als Neunjähriger war er wie viele
seines Alters ins Kloster eingetreten. Zwanzig Jahre kasteite er sich, ein Mustermönch. Da erschien ihm in einem Traum der
als heilig verehrte Prinz Shotoku, der Förderer des japanischen Buddhismus. Er befahl dem jungen Mann, sich in Amidas Glaubenslehre
zu vertiefen. Shinran gehorchte, fand Amida, bekehrte sich. Mit einem Schlag wurde ihm klar: Vergeblich bleibt alles Bemühen,
unser Ego abzutöten! Amidas Gnade allein schenkt das Leben. Du willst dein Licht leuchten lassen? Geh, entzünde eine Kerze,
tritt hinaus ins Sonnenlicht, schau, sie leuchtet nicht! Verdienste sammeln? Gute Werke? Mönchisches Leben? Alles, jedes selbsteigene
Bemühen verblasst in Amidas Gnadenlicht. Nach dieser Erkenntnis |76| verließ Shinran das Kloster und legte die Mönchsgewänder ab. Zwei Jahre später heiratete er.
Shinran brachte Amidas Gnadenlehre unters Volk. Zwischendurch wurde er sieben Jahre als Ketzer verbannt. Danach missionierte
er bis ans Lebensende im östlichen Inselreich, Jahrzehnte hindurch, wie der indische Buddha: Rufe Amida an, sprich zu ihm
in deinem Gebet »Namu Amida Butsu«, deiner Kraft vertraue ich mich an, und das Reine Land steht dir offen! Das verkündete
der ehemalige Mönch den Leuten. Alles Mühen um Verdienste und gute Werke diskreditierte Shinran als frommen Egoismus, der
das Ich am Leben erhält, das doch eigentlich absterben soll. Shinran gründete keinen neuen Orden, alle Möncherei galt ihm
als kontraproduktiv. Jeder bleibe dort, wohin das Schicksal ihn stelle. Die äußere Lebensform wird belanglos, sobald das Wohnrecht
im Reinen Land gesichert ist.
Man hat den Shin-Buddhismus den »protestantischen« Buddhismus genannt. Und wirklich, die Ähnlichkeit mit Luthers Bekenntnis,
dass »der Mensch Gott gerecht werde allein durch den Glauben, ohne des Gesetzes Werke«, springt ins Auge. Auch biografisch
ergeben sich überraschende Parallelen. Beide, Shinran und Luther, bemühen sich zunächst gewissenhaft als Mönche, beide brechen
im gleichen Alter mit der herrschenden Lehre, beide heiraten darauf, Luther wie Shinran werden angefeindet und verfolgt, beide
begründen eine Gemeinschaft der Gläubigen, die keine religiöse Zwei-Klassen-Gesellschaft mehr sein will. Nur: Shinran war
dem protestantischen Reformator um Jahrhunderte voraus! Katholische Patres, die während des 16. Jahrhunderts im Land der aufgehenden
Sonne missionierten, waren entsetzt, als sie den Amida-Buddhisten begegneten und die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen
deren Lehre und der protestantischen Religion entdeckten. Wie hatte es der Erzketzer Luther angestellt, selbst bis nach Japan
hinein zu wirken?
Nur eine kuriose Übereinstimmung? Für mich ist es mehr. Denn Luther wiederum berief sich auf einen Zeitgenossen von Jesus,
den Juden Paulus. Auch bei diesem ging eine Vision der Bekehrung voraus. Saulus wurde zum Paulus berufen. Und Paulus verkündete
wie Shinran eine extreme Gnadenlehre: »Allein aus dem Glauben«. Aus dieser dreifachen Konstellation – Paulus, Shinran, Luther
– ergeben sich übergreifende Perspektiven, die in der Religionswissenschaft noch längst nicht ausdiskutiert sind. Ich werde
im Kapitel über das Christentum noch einmal darauf eingehen.
|77| Die große Fähre und das kleine Boot: Mahayana und Hinayana
Die späteren Buddhisten haben sich zunehmend der Volksfrömmigkeit, den Laien, geöffnet. Wie beim Taoismus kann man zwei Richtungen
Weitere Kostenlose Bücher