Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
erlesener Etikette, adressiert einander als Hochwürden und Hochgeborener.
|67| Aristokratisch-demokratische Traditionen pflegten auch die Sakya-Sippen, denen Siddharta Gautama entstammte. Ihre Verfassungen
schrieben Sanghas, Vollversammlungen, vor, es wurde abgestimmt und man entschied mehrheitlich über anstehende politische Entscheidungen.
Ähnliches finden wir in den griechischen Stadtstaaten jener Zeit. Siddhartas Vater soll Sprecher einer Sangha-Republik gewesen
sein. Sein Sohn übertrug diese Konstruktion auf die Mönchsgemeinde: Regelmäßige Zusammenkünfte, geheime Abstimmung, Ausschüsse
und das Recht auf Minderheitsvoten wiesen Buddhas Sangha als demokratische Organisation aus. In der Praxis wurde allerdings
möglichst so lange diskutiert und abgestimmt, bis eine einmütige Beschlussfassung erreicht war. Solange der Erleuchtete unter
ihnen weilte, war er die zentrale Leitfigur. Nach seinem Paranirwana blieb diese Stelle unbesetzt. Eine religiöse Gesamtautorität,
vergleichbar dem Papsttum, hat es in der buddhistischen Mönchsorganisation nie gegeben. Bis heute sind deren Klöster autonom.
Die Rangordnung unter den Mönchen errechnet sich nach ihrem Dienstalter, nach der Zeit des Eintritts in den Orden.
Die Lehre ist der Lehrer
Vor seinem endgültigen Nirwana sagte der Erleuchtete zu Ananda, seinem Lieblingsjünger: »Es könnte sein, Ananda, dass ihr
dächtet: Ihres Lehrers beraubt ist die Lehre, wir haben keinen Meister mehr! So dürft ihr nicht denken, Ananda. Die Lehre
und die Regeln, die ich euch gelehrt habe, sollen euch nach meinem Dahinscheiden als Meister dienen.« Ein solches Lehrbeispiel
bietet die folgende Geschichte.
Sariputta, ein Hauptjünger des Buddha, steht am Krankenlager des Mönches Channa und hört ihn klagen: »Ich habe unerträgliche
Schmerzen, die ständig schlimmer werden. Ich will zum Messer greifen, ich wünsche nicht mehr zu leben.« Sariputta erschrickt.
Weiß er doch, Selbstmord ist kein Ausweg aus der Geburtenfalle. Du nimmst dein altes Leben mit hinüber in die nächste Wiedergeburt,
und damit wird alles noch schlimmer für dich. Es sei denn, Channa hätte bereits den Zustand der völligen Erleuchtung erreicht,
schon in diesem Leben das Nirwana gefunden. Und so examiniert Sariputta den Lebensmüden. Hat Channa wirklich mit der Welt
gebrochen? Der Ichheit, dem Mich und Mein völlig entsagt? Hat Channa sich wirklich vom nächsten Mutterschoß befreit, sein
Karma hinter sich restlos verbrannt? Sich gänzlich vom Lebensdurst |68| befreit? Das alles ist vollbracht, antwortet der Schmerzensmann. Jenes Zusammengesetzte, die Illusion, die Channa hieß, gibt
es nicht mehr, nur seine Bestandteile funktionieren noch. Wie im Leerlauf.
Also kann Channa zum Messer greifen, und er tut es.
Sariputta überbringt dem Meister die Nachricht und will von ihm wissen: Wie geht es mit Channa weiter? Welches Schicksal erwartet
ihn? Die Familien unten im Dorf seien ungehalten, seine Freunde tadelten Channas Schritt, berichtet der Jünger dem Erhabenen.
Der in Wahrheit Erleuchtete antwortet: »Ich sage nicht, dass Channa deswegen zu tadeln ist. Wer diesen Körper ablegt und einen
anderen ergreift, den nenne ich tadelnswert. Dies aber trifft für Channa, den Mönch, nicht zu. Dass er zum Messer gegriffen
hat, daran ist nichts auszusetzen! – Dies sagte der Erhabene. – Dankbar, voll Freude nahm der ehrwürdige Sariputta die Erklärung
des Erhabenen entgegen.«
Hat sich die Begebenheit so zugetragen, und ist dies Buddhas Lehre, dann hätte auch der Erhabene sich jederzeit entleiben
können. Denn die Nirwana-Erleuchtung hatte er längst erreicht. Er tat es nicht. Noch 45 Jahre nach seinem Durchbruch ins große
Verlöschen wanderte Buddha mit seiner Jüngerschar predigend durchs nordöstliche Indien, lehrte und brachte die Frohbotschaft:
»Vernichtet ist die Wiedergeburt, gelebt ist der heilige Wandel. Getan ist, was zu tun war, die Geburt ist vernichtet.«
Mit wie vielen unterschiedlichen Gesichtern kommt Buddha daher!
|69| Der Erleuchtete legte auch nicht Hand an sich, als er 80jährig auf dem Weg zurück in die Heimat am Fuß der Himalayaberge erkrankte.
Er litt an blutiger Ruhr, schmerzhaften Darmkrämpfen, musste am Wegrand immer wieder Pausen einlegen. Besonders quälte ihn,
hervorgerufen durch kolikartige Entleerungen, der Durst. Im Wald von Kusinagara bereiteten ihm seine Mönche ein Lager. Dort
verbrachte Buddha, dem Westen
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