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Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann

Titel: Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnulf: Zitelmann
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machen. Aber doch nicht auf Kosten Israels! Wer Israels Glauben der Menschheit öffnete, setzte jedoch das ganze
     Regelwerk jüdischer Gesetzesvorschriften außer Kraft und baute die nahezu unüberwindlichen Hürden ab, die es zu nehmen galt,
     wollte ein Nicht-Jude sich zu Israels Gott bekennen.
    Paulus argumentiert aus der Tora gegen die Tora. Abraham ist sein Kronzeuge. Der wurde Gott »gerecht durch den Glauben«, allein
     so. Die Tora hingegen kam erst viele Jahrhunderte später in Israels Hände. In Abraham aber, las Paulus weiter in der Hebräischen
     Bibel, sollen »gesegnet werden alle Völker der Erde«. Und dies geschieht durch den Messias Jesus. Was Moses für Israel ist,
     ist Jesus für die Völker der ganzen Welt.
    Dennoch bleibt es bei dem jüdischen Erstgeburtsrecht, das Paulus vehement verteidigt: »Sie sind Israel, sie haben die Sohnschaft,
     die Gottesgegenwart und die Bündnisse und die Tora und dürfen Gott dienen, ihnen gehören seine Verheißungen, sie haben die
     Glaubensväter und als Mensch stammt der Messias von ihnen ab.« Könnte er für sein Volk in die Hölle gehen, »verflucht« sein,
     selbst Christus darüber verlieren, Paulus würde es tun. Bei aller Polemik in der Sache gibt Paulus seine jüdische Identität
     nicht preis. Also, beschwört er Christen wie Juden, »nehmt einander an«, zur Ehre Gottes! Doch wie sich Paulus das Verhältnis
     der Glaubenszwillinge, der Tora- und Christenleute, konkret vorstellt, bleibt ein Rätsel. Es war am Ende für ihn Gottes Sache,
     damit fertig zu werden.
    Und so bleibt es bei den zwei Wegen zu dem einen Gott. Für das Judentum, zumal nach dem Römischen Krieg, wird es zur Überlebensfrage,
     sich von den Christen abzugrenzen: Haben sie ihren Jesus, haben wir unsere Tora! Sie wird zur Königstochter, zur Tochter des
     Höchsten in der Fremde, Baum und Arznei des Lebens, Quell allen Heils. Sie wird zum Schwert, und die Tora-Lehrer werden nicht
     müde, »Israels Herrlichkeit und Schmuck« zu rühmen. Bis heute feiert Israel jedes Jahr Simchat Tora, das Fest der Freude am
     Gesetz. Tanzend werden die geschmückten Schriftrollen durch die Synagoge getragen, in Jerusalem über den Platz vor der Westmauer.
     Fleißige Hände haben die Königstochter mit kostbaren Kleidern ausgestattet, sie trägt goldene, silberne Kronen, und die Gläubigen
     drängen herbei, die Schöne, die Geliebte, ihre Kleider zu küssen, sie zärtlich zu berühren. Wissen doch alle Feiernden, dass
     sie der Tora ihr Leben |134| verdanken, buchstäblich, denn ohne sie wäre Israel vom Erdboden verschwunden. Je stärker der Druck von außen wurde, um so
     mehr flüchteten sich Juden hinter den Zaun der Tora und befestigten ihn gegen alle Angriffe.
    Wie schon im Buddhismus musste der Heilsbringer »unbefleckt« zur Welt gekommen sein. Dasselbe gilt für die Tora: Keine menschliche
     Hand hat je Gottes Worten auch nur einen Buchstaben hinzugefügt. Also war die göttliche Wahrheit vollständig in ihr enthalten.
     Jeder Vers birgt das Geheimnis, hat darum unerschöpflich viele Bedeutungen, jede von gleicher Gültigkeit und Wahrheit, selbst
     dort, wo Wort und Buchstabe voneinander abweichen oder sogar im Konflikt miteinander stehen. Die Tora des Moses ersetzt das
     verlorene Orakel des Priesters im Tempel. Sie gibt in jeder Frage Rat und Weisung.
    Das Studium der Tora gibt Anteil an der Erlösung. Und weil die Erlösung ganz Israel umschloss, musste jeder Israelit in der
     Bibel lesen können. Aus diesem Grund gab es eine umfassende Lese- und Schreibpflicht für fast alle Juden – eine Einrichtung,
     die andere Völker zu dieser Zeit noch nicht kannten. Nur die Mädchen waren davon ausgenommen, erhielten jedoch über ihre Familie
     Unterricht im religiösen Pflichtenkatalog.
    Die Träger der Bildung, die in den Synagogen stattfand, waren die örtlichen Gemeinden. Diese waren autonom organisiert, seit
     es nach den römisch-jüdischen Kriegen kein jüdisches Staatsgebilde mehr gab. Mehrsprachigkeit verstand sich von selbst unter
     den Juden in der Diaspora. Ein Netzwerk von Handel und Verkehr verband die Juden des Zweistromlands mit denen Irlands, die
     von Lyon mit denen Kretas. Im öffentlichen Leben passte man sich den Sprachgewohnheiten der jeweiligen neuen Herrscher an.
     Privat pflegte man die eigene Sprache, das Aramäische, eine Dialektform des Hebräischen. Alles zusammen addierte sich zu einem
     Überlebensvorteil, der den versprengten Juden half, alle Zeitläufe zu

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