Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
erfolgte im Christentum erst Jahrzehnte nach der Osterauferstehung. Da die Christen der ersten
Stunde sicher waren, ihr Herr |137| würde, wenn nicht morgen, dann übermorgen wiederkehren, bestand unter ihnen kein Bedürfnis, die Erinnerungen an Jesus schriftlich
festzuhalten. Das taten wohl zuerst jene Hellenisten, die später zur Jerusalemer Urgemeinde hinzustießen. Darum ist das Neue
Testament auch in griechischer Sprache abgefasst und nicht in der Sprache von Jesus. Der nämlich redete Aramäisch, genau wie
alle Juden seiner Zeit. Es ist denkbar, dass es auch jene Hellenisten waren, die als erste einen zusammenhängenden Bericht
über die Verurteilung von Jesus aufzeichneten. Vermutlich hielten sie auch seine bis dahin nur mündlich tradierten Aussprüche
fest. Das alles, versteht sich, in griechischer Sprache! Im Einzelnen können wir diese Vorgänge heute nicht mehr nachvollziehen.
Alles ist durch viele Hände gegangen, bis es ins Neue Testament gelangte.
Lukas, Widmung an Theophilus.
|137| Wer war Jesus von Nazareth?
Die gesicherten Fakten seiner Biografie sind schnell erzählt. Seine Herkunft aus Nazareth in den Bergen Galiläas ist gut bezeugt.
Als Eltern werden Maria und Josef genannt. Der Junge wächst unter vielen Geschwistern auf. Vier Brüder sind dabei, darunter
Jakobus, der später der ersten Gemeinde in Jerusalem vorsteht. Außerdem finden sich noch verschiedene Schwestern. Als Beruf
des Vaters geben die Quellen eine Tätigkeit als Zimmermann an, Jesus kommt also aus einer Handwerkerfamilie. Und das ist schon
alles, was wir über seine Kindheit wissen. Erst später wuchs das Interesse an seinen jungen Jahren. Aus diesem Bedürfnis entstanden
die Kindheitsgeschichten der Evangelien.
Markus, der früheste Autor, kennt noch keine Geburts- und Kindheitsgeschichten. Seine Biografie beginnt mit dem ersten öffentlichen
Auftreten von Jesus als Wanderprediger.
Johannes, der letzte unter den Evangelisten, tut die Kindheitserzählungen, die er von Matthäus und Lukas kennt, mit einer
einzigen Handbewegung ab. Er bettet das Erscheinen von Jesus direkt in die Existenz Gottes ein. Sein Evangelium beginnt mit
den Worten:
»Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und von Gottes Art war das Wort. Dieses war von Beginn an bei Gott. Durch
das Wort kamen alle Dinge ins Dasein. In ihm war das Leben, und das Leben wurde zum Licht der Menschheit. – Und das Wort wurde
Fleisch und Blut, wohnte unter uns. Wir sahen seine Herrlichkeit, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, die Zuwendung
Gottes und seine Wahrheit.«
|138| Ein philosophischer Text, der sich als solcher in unsere Sprache transportieren lässt. Bei Johannes tut sich Gott nicht kund
wie am Berg Sinai. Nicht unter Blitz und Feuer. Ebenso wenig offenbart er sich in esoterischer Innerlichkeit. Das Medium ist
die Botschaft: In Jesus, in seinem Menschsein wird Gott erfahren. Jesus ist Gottes »Wort«, sein Gesicht unter den Menschen.
Das Gesicht ist die Verwundbarkeit des Anderen, sein Fremd- und Anderssein. Sein Blick ist ein Ruf, der nie verstummt. Und
seine nie endende Bitte heißt: Töte mich nicht! Im Leben von Angesicht zu Angesicht mit ihm gewinne ich mich als Ich, gebe
mir selbst ein Gesicht. Durch ihn, den Anderen, durch sein Fremd- und Anderssein, und nur dort allein, erschließt sich uns
der jenseitige Gott. Der gekreuzigte Andere, Jesus, ist Gottes wahres Gesicht.
So lässt sich die Wort-Philosophie des Johannes in heutiger Begrifflichkeit formulieren. Sie verdankt sich keiner abstrakten
Überlegung, sondern kommt zur Sprache angesichts der Gegenwart Gottes in dem gekreuzigten Jesus. Das ist die Aussage, die
das ganze Evangelium des Johannes durchzieht.
Solche Texte erreichen nicht alle Menschen. Matthäus ist da sehr viel erzählfreudiger. Zu dessen Zeit kursiert bereits eine
Überlieferung, nach der Jesus nicht im fernen Galiläa, sondern gleich in der Nachbarschaft zur jüdischen Hauptstadt zur Welt
gekommen ist: in Bethlehem. Aus Bethlehem stammte auch König David, aus dessen Geschlecht die Juden ihren Messias erwarteten.
Nach Bethlehem ziehen, geleitet durch einen Stern, die Weisen aus dem Osten, um dem Neugeborenen ihre Reverenz zu erweisen.
Die Weisheit des Ostens – die wir als Lehren von Zarathustra, Buddha und Laotse kennen – huldigt dem Kind. Eine deutliche
Anspielung darauf, dass in dem Messias Jesus alle Schätze der Weisheit verborgen sind. Und
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