Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
denen |129| seine Mission ausgesetzt war. Offene oder verdeckte Feindschaft schlägt ihm entgegen, mehrmals wird er auf Geheiß der Magistrate
öffentlich ausgepeitscht, Wegelagerer bedrohen ihn auf seinen Reisen, bei verschiedenen Schiffsbrüchen verliert er fast das
Leben. Doch ich lasse ihn selbst sprechen:
»Wir möchten, wo immer es gilt, der Botschaft entsprechen; durch guten Ruf oder bösen, durch Verleumdung oder Lob, als Betrüger
und doch wahrhaftig, als Dunkelmänner und doch im Licht, als Sterbende und doch am Leben, gefoltert und doch nicht beseitigt,
traurig und doch allezeit fröhlich, als Arme, die doch viele reich machen, Habenichtse, die doch alles besitzen.« Die Christusvision
ist ihm vor Augen geblieben, immerzu, geblendet von ihr, konnte ihn nichts mehr schrecken: »Von allen Seiten bedrängt, werden
wir doch nicht erdrückt, sind wir ratlos und verzweifeln doch nicht, werden wir verfolgt und sind doch nicht verlassen, am
Boden und doch nicht zerstört.«
»Saul, Saul, was verfolgst du mich?«
|130| Das klingt, als habe sich die ganze Welt gegen den abtrünnigen Pharisäer verschworen, gegen den frisch gebackenen Christen,
und, wir werden sehen, so war es auch. Mit seiner Bekehrung setzte sich Paulus zwischen alle Stühle.
Eine visionäre Theologie
Er war kein Hysteriker, kein Psychot. Für seinen stabilen Charakter spricht, dass er sich nicht gleich nach seiner Vision
mit dem Eifer eines Neubekehrten auf die Leute stürzte. Im Gegenteil. Paulus ging für Jahre außer Landes, um zu begreifen,
was ihm geschehen war, die Tora zu studieren, so nehme ich an, und sein Erlebnis rational aufzuarbeiten. In »Arabien«, dem
heutigen Syrien, muss seine neue Theologie in ihren Grundzügen entstanden sein.
Dass Gott an die Menschheit glaubt, ist Ausgangspunkt seiner Theologie. Es ist nicht nötig, ihn mit Opfern oder gutem Verhalten
gnädig zu stimmen. Gott ist, wie er ist – Israels Gott, der an seine Geschöpfe glaubt und die er liebt. Gehen die Menschen
auf ihn ein, werden sie dem glaubenden Gott gerecht, entspricht ihr Leben dem seinen. Mit Jesus, dem Messias, stellt Gott
seinen Glauben an die Menschen unter Beweis. Jesus ist das Zeugnis seiner Menschenliebe. Doch diese, vertreten durch Israel,
nahmen den Gottesbeweis nicht an. Sie kreuzigten den Messias Jesus als Verbrecher. Gott aber rehabilitierte ihn, indem er
ihn vor den Augen der Seinen von den Toten auferweckte. Durch seine Boten, die Jesus als den gerechtfertigten Überwinder verkünden,
wird er zur Frohbotschaft für alle: Gott glaubt an den Menschen, er liebt ihn, trotz allem, was gegen ihn spricht.
In der rabbinischen Sprache des Paulus klingt das alles viel komplizierter. Doch die Botschaft ist klar: Durch Glauben allein
werden Menschen Gott gerecht. Also nicht durch die gesetzlich vorgeschriebenen Werke der Tora, durch Verdienst und Leistung.
Nach der Tora, dem Gesetz, wurde Jesus gerichtet, seine Auferstehung schließt darum die pharisäische Torafrömmigkeit als Erlösungsweg
aus. In jeder Form. Der Christus-Glaube erlöst von Sünde, Tod und Teufel, der Glaube allein. Moses Tora verliert bei Paulus
ihre Bedeutung als Halacha, wie das Rabbinat die normative Rechtsverbindlichkeit der Tora bezeichnet.
Als Haggada, als historisches Erzählwerk, das die Taten Gottes bezeugt, behält Israels Tora jedoch ihre Gültigkeit. Auf sie
greift Paulus zurück, wenn er die nichtjüdischen Christen auffordert, das in den Moses-Büchern bezeugte |131| Bürgerrecht aller Gläubigen wahrzunehmen: »Die Gottesstadt, die aus der Zukunft kommt, ist die Stadt der Freiheit. Sie ist
unsere Mutter.« Das Vermächtnis der jüdischen Christengemeinde, ihre jesuanische Frohbotschaft, wird bei Paulus zur Befreiungsbotschaft.
Ganze Zitatreihen aus seinen Briefen unterstreichen das:
»Wo der Geist des Messias ist, da herrscht Freiheit.« Und »Wir sind keine Sklavenkinder, die Freiheit hat uns geboren«, darum
gilt: »Freigekauft seid ihr, werdet nicht zu Menschenknechten!«, denn: »Frei steht mir alles, doch nicht alles macht frei,
frei steht mir alles, doch hörig machen soll mich nichts«. Also »darf Freiheit nicht dazu führen, dass ihr von Neuem in die
Gewalt der bestehenden Verhältnisse geratet. Lasst euch vielmehr so aufeinander ein, dass ihr einer für den anderen da seid.«
Seine befreiende Botschaft zieht Paulus aus bis zur Vollendung der Welt, von der schon der Prophet Jesaja sprach, und in
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