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Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann

Titel: Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnulf: Zitelmann
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der
     auch die stumme Kreatur, Tier und Menschenwelt gemeinsam, der Freiheit teilhaftig werden soll: »Die ganze Schöpfung hält Ausschau
     nach den Töchtern und Söhnen Gottes und erwartet sehnsüchtig das Erscheinen der neuen Menschheit. Denn gegen ihren Willen
     unterliegt die Schöpfung der Zerstörung, durch den Menschen, der sie sich unterworfen hat. Darum umschließt unsere Hoffnung
     auch sie. Auch die Schöpfung soll freigelassen werden und wird an der Größe Anteil bekommen, die Gott seinen Töchtern und
     Söhnen verleiht. Wir wissen, alle Geschöpfe sehnen und ängstigen sich, dass dies endlich geschieht. In der Hoffnung also liegt
     unsere Befreiung. Hoffnung aber weist über das Bestehende hinaus, oder sie ist keine Hoffnung. Hoffen wir aber auf das, was
     noch aussteht, leben wir in beständiger Erwartung.« – Wenn das Wort »Religion« in seinem ursprünglichen Sinn »Rückgriff« bedeutet,
     dann ist die Theologie des Paulus keine Religion mehr. Sie ist ein »Vorgriff« auf den allerletzten, noch ausstehenden Gottesbeweis,
     durch den sich Gott als der erweisen wird, der »alles in allem« ist.
    Schon die Zeitgenossen haben den Mann aus Tarsus kaum verstanden. In seinen Briefen »ist manches schwer zu verstehen«, beklagt
     sich einer der neutestamentlichen Schriftsteller. Und die spätere Kirche blieb vollends hinter seinen Entwürfen zurück. Man
     ließ den Völkerapostel Paulus einfach links liegen und predigte Drohbotschaft statt Frohbotschaft, religiösen Kapitalismus:
     Nur wer Verdienste sammelt, kann vor Gott bestehen! Das war genau das Gegenteil der Botschaft, die Paulus wie ein Blitz getroffen
     hatte.
    Augustinus freilich, der Religionsphilosoph des 5. Jahrhunderts, wäre ohne Paulus nicht denkbar. Ich schätze besonders zwei
     seiner Aussprüche, in denen |132| die Theologie des Apostels aufscheint. Dessen Feststellung, »die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung«, kommentiert Augustinus
     mit fünf Worten: »Ama et fac quod vis.« Liebe, und mach daraus, was du willst! Das andere Zitat, in dem ich Paulus in Kurzfassung
     wiederfinde, lautet: »Dies septimus nos ipsi erimus.« Der Schöpfungssabbat werden wir selber sein. Solange sind alle Dinge
     erst im Werden, noch nicht im Gewordensein. Der wahre Anfang der Dinge liegt nicht hinter, sondern vor uns.
    Mit solchen Horizonten vor sich durchreiste Paulus das Römische Reich. Machte er Station, verdingte er sich als Lohnarbeiter
     in einer Weberei. Wie viele Rabbiner hatte auch Paulus ein Handwerk gelernt, nach dem Grundsatz, die Tora-Lehre solle unentgeltlich
     sein.
    Ein großer Reisender war er, auch nach innen, für Höhenflüge wie geschaffen. Immer wieder wird er von Visionen überrannt.
     Irgendwann sogar »entrafft bis in den dritten Himmel«, eine Außer-Körper-Erfahrung, dann wieder vernahm er »arreta remata«,
     unaussprechliche Worte. Und wenn in den Gemeinden, die er in Griechenland missionierte, Leute mit exstatischen »Zungenreden«
     prahlten – das konnte er auch: Aber vor der versammelten Gemeinde »will ich lieber fünf Worte bei vollem Verstand reden, damit
     andere was davon haben, als zehntausend Worte in Zungenrede«. Diese Verbindung zwischen Mystik und Rationalität ist typisch
     für Paulus. Seine ganze Theologie ist nichts anderes als die rationale und damit für andere überprüfbare Umsetzung seiner
     Visionserfahrung von Damaskus. Überprüfbar anhand von Schriftbeweisen aus der Tora.
    Paulus, der Christ, bleibt Jude
    Mit seiner anarchischen Theologie handelte Paulus sich Ärger ein. Sein Prinzip »ama et fac quos vis« diskreditierte die normalen
     Glaubensmuster. Frömmigkeit verstanden die Juden wie die Nicht-Juden immer als Gesetzesfrömmigkeit. Für die pharisäische Richtung,
     der Paulus entstammte, galt dies sogar im Extremmaß: Lieber zehn Gebote zu viel als nur eins zu wenig, das war die Glaubensregel
     ihrer Tora. Paulus stellte deren gesamte Existenz infrage: die Beschneidung, das Sabbatgesetz, die Unterscheidung zwischen
     rein und unrein, das Erbe der Väter, Israels Abgrenzung von den Völkern. Doch wenn die Tora, der Zaun um Israel, fiel, würde
     sich das Gottesvolk auflösen, verschwinden im Völkermeer.
    |133| Wollte Paulus das? Die Selbstauflösung des Judentums? »Das sei ferne!«, protestierte er immer wieder, besonders im »Brief
     an die Römer«, seinem letzten Vermächtnis. Ja, er will den jüdischen Glauben globalisieren, in die Welt tragen und allen Menschen
     zugänglich

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