Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
den Schlüssel stibitzt. Ich hab’s gesehen.«
»Oolie, du schwindelst mich an!«
Schmollend senkt Oolie den Blick. »Tu ich nicht. Großes Inderehrenwort.«
Clara hat bisher immer gedacht, dass Oolie manchmal Dinge durcheinanderbringt, aber nicht in der Lage ist, wirklich etwas zu erfinden. Was hat sie wohl sonst noch erfunden?
Doch bevor sie nachfragen kann, klingelt es, und sofort tauchen ihre Eltern im Flur auf. Ihre Mutter trägt ein T-Shirt mit dem Slogan »NORMAL = NORMIERT«. Ihr Vater trägt eine Krawatte.
Clara starrt die beiden an. Die Sache scheint ernst.
Sie setzen sich alle an den Küchentisch.
»Hätten Sie gern eine Tasse Tee?« Ihre Mutter fixiert den Sozialarbeiter mit kaltem Blick.
»Mum sagt, von uns kriegen Sie keinen Tee«, sagt Oolie.
»Nein. Danke, schon gut«, sagt er.
»Mum sagt, sie will nicht, dass Sie hier rumhängen«, sagt Oolie.
»Dann versuche ich mich kurz zu fassen.« Blinzelnd nimmt er einen Hefter aus der Aktentasche. »Wie Sie vielleicht wissen, ist bei der Bebauung des Grundstücks Greenhill Lees eine Einrichtung für betreutes Wohnen vorgesehen. Es gibt jetzt schon eine Warteliste. Ich möchte Oolie-Annas Namen auf diese Liste setzen. Aber dafür hätte ich gern Ihre Zustimmung.«
»Und was, wenn wir nicht zustimmen?«, fragt Doro.
»Ich glaube, das werden Sie«, sagt er.
Donnerwetter, denkt Clara. Ziemlich mutig, es mit Doro aufzunehmen.
»Sag’s ihr, Clarie! Sag ihr, dass ich meine eigene Wohnungwill«, sagt Oolie. »Ich hab’s satt, zu Hause zu wohnen. Weil Dad immer furzt.«
Marcus lacht. »Guter Grund.«
»Wer sorgt dafür, dass sie nicht irgendwelchen Müll isst?«, fragt Doro. »Wer sorgt dafür, dass sie ihre ... Tabletten nimmt?«
»Was für Tabletts?«
»Es ist nicht das Ende der Welt, wenn sie ab und zu eine Pizza isst«, wirft Clara ein.
»Es gibt dort Betreuer, die all das im Blick haben«, sagt Mr. Clements.
»Und Megan wird sich auch um sie kümmern«, sagt Clara. »Sie hat gesagt, dass Oolie ab jetzt eine wichtigere Rolle in ihrem Leben spielen wird.«
»Das ist ja auch nicht schwer, oder?«, blafft Doro.
»Sie können sich so viel oder so wenig einbringen, wie Sie möchten, Mrs. Lerner. Aber es ist besser, wenn Sie jetzt anfangen loszulassen, wenn alles mit Bedacht eingerichtet werden kann, als wenn Sie abwarten, bis irgendwann ein Notfall eintritt ...«
»Er hat recht, Mum«, sagt Clara. »Du und Marcus, ihr werdet alt, wenn ich das mal sagen darf.«
Ihr ist aufgefallen, wie müde Marcus aussieht und wie verwirrt Doro manchmal ist.
»Nein, werden wir nicht!«
»Doch, werdet ihr, Mum. Und es wird nicht besser.«
Doro rollt die Augen. Mr. Clements sieht Clara stirnrunzelnd an.
»Sehen Sie es doch in einem positiven Licht. Es ist doch keine Strafaktion. Sehen Sie es als wunderbares Geschenk für Ihre Tochter, Mrs. Lerner. Das Geschenk ihrer sich entfaltenden Unabhängigkeit.«
Offensichtlich war er bei einem dieser Lehrgänge für positives Denken.
»Gescheng! Ich will ein Gescheng!«, singt Oolie.
»Und was, wenn sie S-C-H-W-A-N-G-E-R wird?«, buchstabiert Doro.
»Was ist ein En-ge-eh-er?«, fragt Oolie.
»Sie möchte ein B-A-B-Y.«
»Mrs. Lerner, ich verstehe, wovor Sie Angst haben«, sagt der Sozialarbeiter leise. »Ich bin durch die ganze Fallgeschichte gegangen, bis zurück zum Jahr 1994. In den Neunzigern hat man überall Kindesmissbrauch gewittert. Seitdem haben wir gelernt, auch ... äh ... unkonventionellere Wohnmodelle zu akzeptieren.«
»Genau das habe ich damals schon gesagt«, entgegnet Doro.
»Mhm. Etwas anderes, was ich entdeckt habe ...«, er rutscht auf dem Stuhl herum und nickt Doro fast entschuldigend zu, »... ist, dass Sie und Mr. Lerner den legalen Adoptionsprozess nie zu Ende gebracht haben.«
»Weil wir nicht verheiratet waren! Weil wir in einer Kommune lebten! Weil der Sozialarbeiter, der uns ausgefragt hat, ein engstirniger Heuchler war mit Zwangsvorstellungen von Nacktheit und Pädophilie! Wahrscheinlich haben Sie die auch! Oder? Und versuch du nicht, mir den Mund zu verbieten!« Jetzt geht ihre Mutter wütend auf den armen Marcus los, der es gewagt hat, den Finger an die Lippen zu legen.
»Ich finde, das ist sehr hilfreich«, sagt Mr. Clements ganz ruhig. »Es ist gut, wenn Sie Ihren Ängsten Ausdruck verleihen.«
»Es hat bei uns gebrannt! Jemand hat unser Haus angezündet, verdammt noch mal! Ist das vielleicht kein Grund zur Angst?«
»Mum denkt, dass ich’s war, aber ich war’s nicht«,
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