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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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beugt sich wieder vor. Zuerst erkennt sie nur einen Haufen zerfetztes Papier in der Ecke, doch dann sieht sie, dass es ein Nest ist, und in dem Nest eingerollt liegt Horatio mit vier winzigen Babys, jedes kaum so groß wie ein Daumen, und alle saugen zufrieden. Wie verzaubert sieht Clara zu.
    Dann, weil sie das Regal nicht allein zurückschieben kann, ohne die kleine Familie in Gefahr zu bringen, macht sie sich auf die Suche nach Mr. Philpott.
    »Oratio war also ein Mädel?«, strahlt Mr. Philpott.
    Gemeinsam schieben sie vorsichtig das Regal zurück bis kurz vor die Wand. Clara nimmt ihre leere Brotdose aus der Tasche und schüttelt ein paar Krumen heraus. Aus irgendeinem Grund erfüllt sie die Verantwortung für Horatio und ihre vier kleinen Babys mit unerwarteter Freude und Fürsorglichkeit. Wovon lebensie? Wahrscheinlich von den Chips und Sandwichkrümeln, die den Kindern herunterfallen. Sie fragt sich, wo sie Wasser herkriegen, dann fallen ihr die Blumentöpfe in den Untersetzern auf dem Fensterbrett ein.
    »Wer könnte der Vater der Babys sein?«, fragt sie sich laut.
    »Wo es Amster gibt, gibt es Geheimnisse.«
    Sie schaltet das Licht aus, schließt die Tür zum Klassenzimmer und folgt ihm in den Heizkeller, um eine Tasse Tee mit ihm zu trinken, bevor sie sich auf den Heimweg macht.
    »Da wir gerade von Geheimnissen reden – neulich, als wir bei Mrs. Taylor waren, haben Sie ein Feuer erwähnt. Irgendwas mit den Jungs aus den Prospects.«
    »Ja, im Stadion der Donny Rovers in Belle Vue. Das war 1995.«
    Hm. Ein anderes Feuer.
    »Alle dachten, es wäre eine Gasexplosion gewesen. Aber dann haben sie den Knilch erwischt, weil er sein Telefon am Tatort verloren hat. Er ist für vier Jahre ins Kittchen gewandert. In Donny wird es nie langweilig, meine Liebe.«
    »Arme alte Doncaster Rovers.«
    »Ja. Aber am Samstag haben wir Plymouth Argyle geschlagen.«
    Unten im Heizungskeller knistert es gemütlich. Mr. Philpott dreht die Flamme hoch und stellt Wasser auf. Draußen vor dem Fenster ist die Dämmerung hereingebrochen, aber drinnen herrscht ein warmes Licht.
    »Der Kerl, dem die Rovers jetzt gehören, Johnny Ryan, ist Schönheitschirurg. Hat die Brüste von Melinda Messenger gemacht.«
    »Aber es gab noch ein Feuer, ein Jahr früher, 1994. In der ehemaligen Verwaltungsvilla der Bergbaugesellschaft, wo wir gewohnt haben. Meine kleine Schwester wurde verletzt. Man hat nie rausgefunden, wer es war. Haben Sie davon gehört?«
    »Hm. Das ist nicht weit von den Prospects, oder? Da untenhaben sie Einiges auf dem Kerbholz.« Er gießt kochendes Wasser über zwei Teebeutel.
    »Meine Schwester sagt, es waren Jungs aus den Prospects. Sie haben sie mal mit Steinen beworfen, als sie klein war. Aber manchmal erfindet sie auch Geschichten.«
    »Ich hab nie was davon gehört. Aber es heißt, dass Malc Loxley so angefangen hat, 1988, mit einem Feuer. Hat mit seinem Bruder mit Schrott gehandelt. Doncaster und South Yorkshire Altmetall. Damit haben sie genug verdient für die Anzahlung auf eine leer stehende Fabrik bei Elsecar. Sie haben das Ding für ’ne halbe Million versichert. Dann haben sie zugesehen, wie alles runtergebrannt ist.« Er fischt seinen Teebeutel aus der Tasse, drückt ihn mit den Fingern aus, wirft ihn in den Heizkessel und sieht zu, wie es zischt. »Ich sag Ihnen eins. Um aus dem Dreckloch rauszukommen, muss man praktisch zum Gauner werden. Sonst gab’s da nix. Milch? Zucker?«
    »Nur Milch.«
    »Tja, ich hab studieren wollen, als ich jung war – aber sie haben mich unter Tage geschickt. Da war ich acht Jahre lang. Hab mich verletzt. Bin seit 1970 hier an der Schule. Nächstes Jahr geht’s in den Ruhestand. Ist schon komisch, wie das Leben so spielt.« Er greift nach seinem Becher und trinkt langsam. »Haben Sie von dem Mädel gelesen, das mit einem riesigen Schlüpfer ein Fritten-Feuer gelöscht hat?«
    Als Clara sich auf den Heimweg macht, ist es schon dunkel. Ein paar Schneeflocken wirbeln gegen die Windschutzscheibe. Sie zittert und wünscht, sie wäre früher aufgebrochen, hätte der Versuchung widerstanden, im warmen Heizungskeller eine Tasse Tee zu trinken und Mr. Philpotts Geschichten zu lauschen.
    Das ungelöste Rätsel um den Brand schwelt in ihrem Unbewussten. Falls Oolie es selbst war, wird, so fürchtet sie, Doro sie nie ausziehen lassen, wenn sie dahinterkommt. Aber es waralles so verworren, und es ist so lange her, vielleicht kommt die Wahrheit nie ans Licht. Vielleicht spielt es keine Rolle

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