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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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erhitzten Diskussionen führten, wenn Doro und sechs Kommilitoninnen, darunter Moira Lafferty(damals noch Moira McLeod), sich mittwochabends trafen, um über ihre Gefühle in Bezug auf ihren Körper, ihren Freund, ihre Familie und ihre Hoffnungen zu reden. Damals hatte sie mit dem BH auch den Namen Dorothy abgelegt und sich fortan Doro genannt, was interessanter und kraftvoller klang. Moira, Doros älteste Freundin und ständige Rivalin, war an der ideologischen Front nicht ganz gefestigt und neigte zu falschem Bewusstsein, damals schon. Es war Moira, die argumentierte, da die Männer herumbumsten, könnten die Frauen sich nur dadurch befreien, dass sie es ihnen nachtaten, und alle nickten, weil ihnen das Selbstvertrauen fehlte, etwas anzufechten, wovon sie so wenig wussten. Es war Moira, die an ihrem BH festhielt, während der Rest als Zeichen der Solidarität mit den amerikanischen Schwestern die BHs in den Mülleimer warf – über den Mythos der BH-Verbrennung mussten sie dann doch kichern.
    Jetzt ist es Oolie, die es hasst, ihre üppigen, hüpfenden Brüste einzuengen, und Doro, die darauf beharrt.
    »Was für ein Unterdrücker?«, hatte ihre Mutter gespottet.
    »Na ja, Daddy, nehme ich an.«
    Worüber sie beide lachen mussten, denn es gab keinen, der für die Rolle des Unterdrückers weniger geeignet gewesen wäre als ihr sanfter, zaghafter Historikervater.
    »Sei nicht albern, Schatz. Hier geht es nicht um Männer, sondern um Schwerkraft.«
    Doro wohnte in Islington in einer WG mit zwei Mädchen von der Uni, Moira McLeod und Julia Chance. Julia, eine dünne keltische Schönheit aus Wallasey, war mit Pete Lafferty verlobt, ihrem Freund aus Kindertagen, der die meisten Wochenenden bei ihnen verbrachte. Binnen sechs Monaten hatten sich Julia und Pete getrennt, und Julia ging nach Merseyside zurück, mit gebrochenem Herzen und einem Büschel von Moiras rotbraunem Haar in der Hand.
    Solchermaßen vorgewarnt, zögerte Doro, Marcus Lerner mit in die Wohnung zu bringen. Sie hatte ihn erst vor wenigen Monaten kennengelernt, als er sie im März 1968 bei einer Anti-Vietnam-Demo aus einer Hecke am Grosvenor Square zog, wohin sie sich vor einem sich aufbäumenden Polizeipferd geflüchtet hatte. Mitten in dem Tumult von fliegenden Schlagstöcken und Pferdehufen hatte er den Arm ausgestreckt und ihre Hand ergriffen.
    »Alles klar, Schwester?« Er hatte strahlende blaue Augen und wildes lockiges braunes Haar; er trug eine schwarze Lederjacke und um die Stirn ein rotes Tuch wie ein echter Revolutionär.
    »Ja, danke, Genosse.« Sie fürchtete den Moment, wenn er dahinterkäme, dass sie keine Revolutionärin, sondern nur eine Soziologiestudentin im fünften Semester war.
    »Komm, hauen wir hier ab.«
    Er setzte sie hinter sich auf den Roller, und sie dachte, er würde sie nach Hause fahren, doch stattdessen nahm er sie mit in seine Bude in der Nähe von Hampstead Heath. Er bewohnte ein kleines Zimmer auf dem Dachboden, möbliert mit einer Matratze am Boden und einem Bücherregal aus alten Brettern, von Ziegelsteinen gestützt. Als Tisch diente eine Holztür, die auf vier Ziegelsteinsäulen balancierte und mit den handschriftlichen Notizen zu seiner Doktorarbeit übersät war. Der Vorhang war ein ungewaschenes rosa Bettlaken mit einem lungenförmigen Fleck in der Mitte. Doro fand alles unglaublich romantisch. Als Marcus ihr mit tiefer, ernster Stimme von der revolutionären Bewegung in Paris erzählte, von wo er gerade zurückgekehrt war, und vom Kampf der Massen für Freiheit und Würde, fand sie sich willig bereit, ihre Jungfräulichkeit für die Sache zu opfern.
    Danach lagen sie auf der Matratze, sahen dem Flackern des Kerzenscheins an der schrägen Zimmerdecke mit den feuchten Flecken zu und lauschten dem Getrappel der Mäuse und dem dumpfen Klopfen aus dem Zimmer unten, das Doro zuerst einemschlaflosen Heimwerker zuschrieb, das jedoch von einem weiteren Doktoranden namens Fred Baxendale stammte, der an seiner Dissertation schrieb – einer obskuren Abhandlung über Karl Marx’ ›Kritik des Gothaer Programms‹ –, auf einer uralten mechanischen Schreibmaschine.
    Sie begegnete ihm am nächsten Morgen, als er in ein winziges Handtuch gewickelt aus dem schimmligen Bad im ersten Stock kam. Zu ihrer Überraschung entpuppte er sich als blasser dünner Junge mit einer über beide Ohren heruntergezogenen Wollmütze, unter der ein paar Strähnen schlammfarbenes Haar hervorlugten. So wie er in die Tasten gehauen hatte, hätte sie

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