Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Team weitergegeben?«
Chicken denkt, es handelt sich um einen numerischen Zaubertrick, mit dem sich das Risiko aus jeder Anlage nehmen lässt, eine Art Da-Vinci-Code, der die Stahltür zu unermesslichem Reichtum öffnet.
»Es ist komplex, Chief Ken.«
»Gut. Je komplexer, desto besser – schwieriger für irgendeinen Streberspitzel zu klauen oder nachzumachen.«
Chicken lächelt, und sein Strahlen wärmt Serge wie Sonnenschein. Er könnte hinzufügen, dass es dadurch auch viel schwieriger wird, zurückzuverfolgen, was sich im ursprünglichen Portfolio befunden hat, so dass am Ende niemand mehr weiß, was irgendwas wert ist, außer den Quants selbst, die die Portfoliosgepackt haben. Und die haben es meistens vergessen, oder sie haben die Lust verloren und sind längst mit etwas anderem beschäftigt.
Doch solche Dinge will Chicken nicht hören, also sagt Serge: »Ich stelle es im Quants-Meeting morgen vor, Ken.«
»Guter Mann. Ich sag Maroushka Bescheid.«
Chicken geht auf Maroushkas Platz zu, seine studiotrainierten Muskeln spannen sich unter dem teuren Stoff des besagten Anzugs. Eines Tages, geht es Serge unwillkürlich durch den Kopf, werde ich auch so einen Anzug tragen.
Doro
Groucho-Marxist
Ich hätte die Frau in den pinken Leggings nicht so anschreien sollen. Es hat nichts gebracht, Serge war es peinlich, und jetzt habe ich schlechte Laune, denkt Doro, während sie zusieht, wie im Zugfenster ihr Spiegelbild über die trübselige Landschaft gleitet, auf der Fahrt zurück nach Norden am Dienstagabend. London ist nur knapp eineinhalb Stunden von Doncaster entfernt, doch es fühlt sich an wie ein anderes Land in einer anderen Zeit. Doro versteht nicht, wie man es dort aushält – das Verkehrschaos, die schmutzigen Straßen, die ignoranten Menschen. So war es schon, als sie und Marcus dort gelebt hatten, vor vierzig Jahren. Sie ist froh, es hinter sich zu lassen.
Und sie ist froh, Serge hinter sich zu lassen, der heute irgendwie nicht er selbst gewesen ist – er war so angespannt und überdreht und hat lauter unverständliches Zeug geredet. Schon ihm einfach nur zuzuhören ist anstrengend. Wenn er sich doch bloß auf den Hintern setzen und seine Doktorarbeit fertigschreiben würde, mit der er sich schon seit Ewigkeiten abplagt. Auch Clara scheint sich mit den Nebensächlichkeiten ihres Berufs herumzuquälen. Doro wünschte, sie könnte mit ihren Kindern offen und freundlich reden; sie wünschte, die beiden würden sie nicht immer so herablassend freundlich behandeln, als wäre sie ein Relikt, dessen Leben sich in der Vergangenheit abgespielt hat. Die mutigen, radikalen und aufrührerischen Werte ihrer Generation werden von ihren Kindern alskuriose Lifestyle-Possen abgetan, so wie die Batik-T-Shirts und Schlaghosen, über die sie sich kringelig lachen könnten.
Doro hat versucht, ihnen Solidarität und Klassenbewusstsein zu erklären, doch die Wörter haben keine Bedeutung mehr für sie. Sogar die Sprache hat sich verändert. »Revolutionär« nennt man heute die neueste Mobilfunktechnik. »Kampf« ist, wenn man sich mit vollen Einkaufstüten durchs Schlussverkaufsgetümmel bewegt. Sie denken, Indie-Musik zu hören macht einen zum Rebellen. Sie denken, sie hätten den Sex erfunden. Natürlich ist Doro in ihrem Alter genauso gewesen, und das ist das Schlimmste daran – sie geben ihr das Gefühl, alt zu sein.
Mit einer Mischung aus Liebe und schlechtem Gewissen denkt sie an ihre eigenen Eltern: deren unvoreingenommene Quäker-Güte und das Notfallgeld, das sie ihr in harten Zeiten zusteckten; und wie sie sich über ihren bürgerlichen Konformismus und ihre überholten sexuellen Komplexe lustig gemacht hat, als sie sich 1968 kopfüber in die Studentenbewegung stürzte.
»Eine junge Frau sollte wirklich einen Büstenhalter tragen«, hatte ihre Mutter sie ermahnt, als Doro ihren BH in die Mülltonne warf, dessen enge Baumwollträger ihr rote Striemen in die Schultern schnitten (das waren die Vor-Lycra-Zeiten).
»Er ist ein Symbol des Patriarchats, Mutter.«
»Wenn die Patriarchen Brüste hätten, würden sie sie bestimmt auch nicht herumhüpfen lassen, Dorothy.«
Sie hat ihrer Mutter nie ganz verziehen, dass sie sie Dorothy getauft hat.
»Warum sollen Frauen sich in BHs zwängen, nur um den Männern zu gefallen?«, hielt Doro dagegen. »Das ist falsches Bewusstsein. Die Werte und Ansichten des Unterdrückers übernehmen.«
BHs und falsches Bewusstsein waren 1968 Themen, die in ihrer Frauengruppe zu
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