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Die Wesen (German Edition)

Die Wesen (German Edition)

Titel: Die Wesen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Lux
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öffnete sie die Nachricht von ihrem Vater.
    Eine dunkle Vorahnung schob sich wie eine schwarze Wolke vor ihre Augen, als sie die Worte las:
     
     
    Liebste Laima,
     
    gerne hätte ich dir etwas anderes geschrieben. Etwas Fröhliches, eine Erinnerung aus alten Zeiten, denn sie sind das Einzige, das uns jetzt noch bleibt.
    Mutter hat es nicht geschafft. Ihre Kollegen haben alles versucht, aber heute Morgen ist sie von uns gegangen.
     
     
    Laima verstand die Worte nicht. Sie las sie erneut und sie machten wieder keinen Sinn. Was sollte das bedeuten? Ihr Verstand sperrte sich gegen den Inhalt, den sie vermittelten. Sie sperrte sich gegen ihren Zusammenhang, gegen das, was ihr Vater ihr sagen wollte. Der schwarze Schleier wurde zu einer Wand. Die Geräusche des Hintergrunds waren verschwunden. Sie war allein in einem Raum. Gefangen, auch wenn sie frei war. Sie war gefangen in einem Gefühl. Dieser Käfig war wie eine Falle zugeschnappt. Sie konnte ihm nicht mehr entkommen. So sehr sie auch versuchte, sich dagegen zu wehren, es half nichts. Die Gitterstäbe hatten sie geschluckt. Je mehr ihr Verstand sich sträubte, je mehr sie sich bewusst war, dass sie eben noch nicht in diesem Käfig festsaß, um so mehr war ihr klar, dass sich gerade alles geändert hatte. Ohne Ausweg. Sie bekam keine Luft mehr, zog ihren Pullover aus und lief nach draußen. Sie taumelte. Schnappte nach Sauerstoff.
    „Was ist los, Laima? Sie sind so blass. Was ist passiert?“
    Von Stein hatte ihr stützend unter den Arm gegriffen.
    „Setzen sich erst mal hin! Slinkssons, holen sie einen Schluck Wasser, schnell.“
    Laima setzte sich hin.
    „Atmen sie tief durch. Ganz ruhig. Einfach ein und aus.“
    Sie versuchte, ihren Blick in die Weite der Wüste zu richten. Langsam atmete sie tief ein. Ein schrecklicher Druck in ihrem Kopf ließ das Bild verschwimmen.
    „Atmen“, hörte sie von Steins Stimme.
    Dann drückte ihr jemand ein Glas in die Hand.
    „Trinken sie etwas!“
    Laima spürte, wie jemand ihr das Glas an die Lippen hielt. Ihr Arm war schwach und zitterte bei dem Versuch, das Glas selber zu halte.
    Sie trank. Die kalte Flüssigkeit fühlte sich fremd an in ihrem Körper. Als sei ihr Körper nicht sie selbst. Als beobachtete sie sich von der Seite. Als spürte sie sich selbst nicht mehr. Was war sie? Wer war sie?
    Ihre Mutter war tot.
    Sie konnte nichts mit diesem Satz verbinden, dennoch tauchte er auf. Und verschwand wieder.
     
    Sie wurde von einem lauten Propellergeräusch wach.
    „Was ist passiert?“
    „Sie sind ohnmächtig geworden“, sagte von Stein. „Mein Beileid. Ich habe ihre E-Mail auf dem Schirm gelesen.“
    „Mein Beileid“, sagte auch der Professor, der, über sie gebeugt, gerade nach ihrem Puls tastete.
    „Ja, danke“, antwortete Laima.
    Sie fühlte sich seltsam. Sie konnte ja nichts dafür, dass ihre Mutter tot war.
    „Kommen sie mit rein. Die Maschine wirbelt zu viel Staub auf.“
    Von Stein und Slinkssons stützten sie.
    Ihr wurde schlecht vom Tabak- und Schnapsgeruch, der in der kleinen Hütte hing.
    „Wir haben schon besprochen, dass wir mit der Maschine, die mit dem chinesischen Raupenhändler gelandet ist, weiterfliegen werden. Eine andre Maschine holt ihn dann morgen ab. Wir werden Richtung Manasarovarsee fliegen und endlich zum Kailash vorstoßen. Vielleicht muntert sie das ein bisschen auf.“
    „Professor Bersinsch geht es schlecht. Er wird es nicht mehr schaffen“, sagte Laima.
    Alle schwiegen.
    „Wir werden diese Expedition und alle seine Entdeckungen in seinem Namen machen und ihm zu Ehren widmen“, sagte von Stein. „Ist das im Sinne aller Mitglieder? Schließlich wäre es ohne ihn nie zu dieser Reise gekommen!“
    Alle nickten.
    „Dann verkünde ich hiermit offiziell, dass die ‚Professor-Bersinsch-Expedition’ sich nun auf die letzte große Etappe begeben wird. Verladet die Sachen, wir brechen auf!“
     
     
     

20
     
    Als sie abhoben, fühlte Laima sich einfach leer.
    Nichts war da. Kein Schmerz. Keine Trauer. Keine Wut.
    Sie hatte versucht, sich in Erinnerungen zu flüchten, sich an etwas festzuhalten, aber es war nicht möglich. Es war nichts da, an das sie sich klammern konnte. Alles war einfach Leere.
    Sie fühlte sich nicht mal selbst. Sie hatte sich aufgelöst. Als sei sie zu Luft geworden, schien ihr der Widerstand, den ihr Körper der Welt bot, wie weggeblasen. Nur ein Punkt war geblieben, wie die Flamme einer Kerze in der Dunkelheit des Nichts. Mehr war es nicht, was sie zu

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