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Die Wesen (German Edition)

Die Wesen (German Edition)

Titel: Die Wesen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Lux
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spüren fähig war.
    Unter ihnen glitt die schier endlose Wüste dahin. Farblos, konturlos, formlos.
    Auch wenn die Dinge da waren, so waren sie doch für Laima ohne Bedeutung. Nichts hatte mehr Bedeutung. Nicht der Schmerz. Nicht die Welt. Nicht mal der Tod ihrer Mutter. Alles war eins. Ein riesiges Nichts, in dem sich Dinge spiegelten. Sie tauchten auf und verschwanden wieder, wie Fata Morganas in der Wüste.
    Alle schwiegen in dem kleinen Flugzeug. Selbst Roger Schüssli hatte angesichts der Situation kein Theater gemacht. Er hatte sich eine Binde über die Augen gelegt, sodass er nicht aus dem Fenster sehen konnte und versuchte, sich zu entspannen.
    Niemand wollte weiter in Laimas Leid vordringen und alle versuchten, sich einigermaßen normal zu verhalten.
    Sie hatten sich von Tsin verabschiedet. Es war ein sehr herzlicher Abschied. Er hatte sie alle als Freunde wieder eingeladen. Sie müssten möglichst bald wiederkommen.
    Thian hatte sich stangenweise mit Zigaretten eingedeckt und Professor Carlsen hatte dem alten Schnapsbrenner, zur Sicherheit, eine kleine Reserve von zwölf Litern seines Destillats abgeschwatzt. So waren sie gut gerüstet aufgebrochen. Der Professor schnarchte lautstark und seine Fahne breitete sich im ganzen Flugzeug aus.
     
    Laima fing an, den Zustand, in dem sie sich befand, nicht als etwas Bedrohliches zu sehen. Sie nahm ihn als etwas Eigenes wahr.
    War diese Leere, die sie fühlte, vielleicht nicht ein Nichts, sondern ein Etwas? Waren Etwas und Nichts nicht das Gleiche? Zwei Seiten einer Medaille. Hielt sie damit die ganze Medaille in ihrer Hand?
    Dieser Zustand fühlte sich nicht schlecht an. Auch wenn es eine grenzenlose Leere war, die sie zu spüren glaubte. War es nicht auch grenzenlose Freiheit? Die Freiheit von Schmerz? Die Freiheit von Liebe? Dieser Gedanke erschreckte sie. War es nicht falsch, die Freiheit von Liebe zu wollen? War man dann nicht herzlos? Oder dachte sie gerade darüber nach, was andere Leute von ihr denken konnten? Dachte sie darüber nach, was sie gelernt hatte?
    Liebe deinen Nächsten! Und wenn nicht? Wenn sie ihn weder liebte noch hasste. Wenn sie ihn einfach ließ, wie er war. Wenn sie einfach war, wie sie war. Was dann? War sie ein schlechter Mensch? Sie war einfach.
    Sie war verwirrt. Dieses Nichtsein würde bald wieder vergehen.
     
    „Bald werden wir die Seen am Fuße des Kailash erreichen“, sagte von Stein.
    „Was war das für eine Geschichte mit diesen zwei Seen?“, fragte Slinkssons.
    „Der Legende nach ist der Manasarovar, der sanfte, positive und freundliche See“, sagte von Stein. „Der hinduistische Ramayana-Epos sagt, wer immer auch den Manasarovar berührt oder in ihm badet, wird ins Paradies eingehen. Wer von seinem Wasser trinkt, wird in Shivas Himmel kommen. Der Rakshastal hingegen gilt als der dunkle, zerstörerische See. Das Wasser soll sogar tödlich sein, wenn man es trinkt. Dabei sind beide Gewässer, was ihre chemische Zusammensetzung angeht, identisch. Soweit man weiß. Tatsächlich sind bis jetzt alle wissenschaftlichen Untersuchungen gescheitert.“
    „Warum?“
    „Der Manasarovar gilt nicht nur als sanft, sondern seine Oberfläche ist auch immer ruhig. Sein Wasser türkisblau und klar. Der Rakshastal dagegen ist immer aufgewühlt und schwarz. Über dem Rakshastal herrscht immer Sturm, egal wie das Wetter auf dem Manasarovar auch ist.“
    „Das ist doch alberner Aberglaube“, sagte Sam.
    „Zumindest gibt es im Rakshastal keine Wasserpflanzen oder Fische wie im Manasarovar. Soviel steht fest. Eine wissenschaftliche Erklärung dafür wurde oder konnte noch nicht gefunden werden.“
    „Und dazu wollen sie da jetzt hin?“
    „Genau.“
    „Und sie denken, dass es so einfach wird, wenn niemand es bis jetzt geschafft hat?“, fragte Sam.
    „Ich dachte, es ist sowieso nur alberner Aberglaube. Also warum sollte ich es nicht schaffen?“
    „Warum fliegen wir die ganze Zeit so niedrig? Landen wir schon?“, fragte Professor Carlsen.
    Thian sagte etwas zum chinesischen Piloten. Der deutete nur auf seine Geräte. Die Zeiger der Anzeigen drehten sich wie wild rückwärts. Der Kompass rotierte um seine eigene Achse.
    „Er sagt, wir befinden uns in einer anormalen magnetischen Zone. Sie ist neben dem Bermudadreieck als das gefährlichste Gebiet der Welt in den Aviationskarten verzeichnet. Er fliegt so niedrig, damit wir im Fall eines kompletten Ausfalls aller Geräte nicht so tief stürzen.“
    „Sieht so aus, als wären bereits

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