Die Wesen (German Edition)
nicht die falsche Taktik gewesen war. Manchmal konnte eine Lüge mehr bewirken als die Wahrheit. Dieser Satz kam ihr merkwürdig vor, traf aber auf ihre Situation zu. Sie besah sich die lahme Truppe, die ohne jede Kraft und Willen vor ihr durch die Schlucht stapfte. Gerade von Stein, der durch seine Forschung um die Macht der Worte und Gedanken wusste, hätte es doch besser wissen sollen. Vielleicht stand seine Liebe zur Wahrheit seinem Forschergeist im Weg?
Was dachte sie da: Lüge, Wahrheit? War alles biegsam wie ein Stück Draht? War die Realität nur das Konstrukt, zu dem man sie machte?
Die Schlucht der Dropa, die sich hinter der abgespaltenen Bergflanke erstreckte, wirkte trostlos. An ihrem Ende schien diesmal nicht die Sonne. Dicke schwere Wolken zogen langsam über einen grauen Himmel. Kein Regenbogen zu ihren Füßen. Dort unten lag ihre Hoffnung begraben. Ohne ihre Ausrüstung blieb ihnen nichts außer dem, was ihr Körper noch bereit sein würde zugeben.
Sie wanderten den gleichen Pfad mit seinem rutschigen Geröll entlang, den sie bereits zur Grabschlucht gegangen waren. Jeder Gedanken an einen Saboteur, der weitere Anschläge auf die Gruppe plante, um ihr Vorhaben zu vereiteln, waren hinfällig geworden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Sache von selbst regelte.
Über ihnen kreisten die Geier, die wie der Saboteur nur geduldig zu warten brauchten. Für das Festmahl, bei dem sie die Totengräber der Lüfte gestört hatten, würden sie sie bald mehr als reichlich entschädigen. Laima beobachtete, wie sie heranschwebten. Es wurden immer mehr. Wochen konnten sie auf den richtigen Augenblick warten. Dann schlugen sie zu, um sich vollzufressen wie Löwen.
Sie kamen an die Gabelung des Weges zur Grabschlucht, warfen einen Blick auf die Stätte der Toten und nahmen den anderen Weg, wohin auch immer er führen mochte. Laima sah es als ein gutes Omen, dass sie sich von der Todesschlucht abwandten.
Die Gruppe schwieg. Jeder machte mit sich selbst aus, wie er seine Zukunft sah und welche Möglichkeiten er sich noch gab. Für einen kurzen Moment brach die Wolkendecke auf und ein breiter Sonnestrahl fiel hindurch. Es war ein schöner Anblick, dachte Laima und knüpfte so ihr eigenes Band der Zuversicht, von einem Ereignis zum nächsten.
Die meisten von ihnen fassten mit der Zeit wieder Mut und wirkten gelöster. Die Gruppe ging nun nicht mehr träge, sondern hatte ein gutes Tempo gefunden und einen stabilen Rhythmus. Laima dachte an den Jungen, der Kapitän Ranjid begleitet hatte und der immer noch nicht zurückgekehrt war. Waren sie tatsächlich so weit von jeglicher Zivilisation entfernt?
Trotz all dieser Gedanken hatte Schüssli seine Ängste im Griff. Lediglich ab und zu stieß ihn Sam in die Rippen, sobald er drohte langsamer zu werden, oder sobald er versuchte, ängstlich in die Tiefe zu sehen. Thian war stumm wie ein Fisch. Von sich aus redete er nie, verfolgte aber alles mit aufmerksamer Miene. Gelegentlich übersetzte von Stein ihm etwas. Professor Carlsen hielt sich trotz seines Alters und seiner Leibesfülle erstaunlich gut. Schnaufte aber wie eine alte Dampflokomotive. Figaro Slinkssons machte auf Laima den undurchschaubarsten Eindruck. Was hatte er ihr beim Wasserfall sagen wollen? Oder versuchte er sie nur in die Irre zu führen?
Der Weg fiel längere Zeit ab, was in Laima das Gefühl nährte, sie würden irgendwo ankommen. Aber dann ging es wieder bergan und alle Hoffnung auf ein baldiges Ziel verflog. Als sie plötzlich vor sich den Jungen sahen. Kraftvoll und gut gelaunt kam er ihnen entgegen. Er wirkte ebenso überrascht wie sie, hier mit ihnen aufeinanderzutreffen. Schnell wurde klar, dass sein Chinesisch nicht halb so gut wie das des Dropaolat war. Thian hatte Mühe, überhaupt eine Verständigung herzustellen. Es war nur mit Händen und Füßen möglich, ihm klarzumachen, dass sie aufgebrochen waren, um ihren Weg fortzusetzen. Laima hatte nicht den Eindruck, dass er wirklich etwas verstand, beziehungsweise Thian und von Stein bis zu ihm vordringen konnten.
Er wollte zurück zu den Dropa und von Stein und Thian schafften es nicht oder unterließen es bewusst, ihn über die Lage in Kenntnis zu setzen.
Sie versuchten dem Jungen klarzumachen, dass er ihre letzte Hoffnung war. Dass er ihnen, wie Kapitän Ranjid, den Weg zeigen musste, sie führen sollte. Dass sie sonst in den Bergen verloren waren. Ob er es verstand, blieb unklar.
„Was sollen wir jetzt machen?“,
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