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Die Wesen (German Edition)

Die Wesen (German Edition)

Titel: Die Wesen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Lux
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ihnen ein schmaler Pfad, der vorher nicht zu sehen war.
    „Das ist nun wirklich zu viel für mich“, stammelte Schüssli.
    Er wich zurück wie ein Pferd vor der Schlange.
    „Nein, das schaffe ich beim besten Willen nicht.“
    „Dann bleibst du eben hier“, sagte Sam. „Mir geht dein wehleidiges Geheul sowieso auf die Nüsse.“
    „Vielleicht ist das Untier ja noch irgendwo hier“, sagte Slinksson, „und hat nur darauf gewartet, dass einer von uns zurückbleibt. Die Kranken und Schwachen sind doch immer die Ersten, die den Jägern zum Opfer fallen.“ Dabei schleckte er sich genüsslich über die Lippen.
    Schüssli war verunsichert. Er fing an zu schwitzen. Er saß in der Zwickmühle. Vor ihm der kaum wenige Fuß breite Weg an der Steilwand des offenen Abgrunds entlang. Hinter ihm der einsame und grausame Tod durch die Hand der Bestie. Man konnte förmlich den inneren Kampf sehen, der Schüssli schließlich dazu brachte, den ersten Schritt über dem Abgrund zu machen. Er versuchte, so gut es ging, nicht nach unten zu sehen, was sich als schwierig herausstellte. Nicht in den Abgrund zu sehen und auf dem schmalen Grat sauber einen Fuß vor den andren zu setzen, war nahezu unmöglich. Bis auf von Stein, der diesmal hinter Schüssli ging, waren alle aus Sicherheitsgründen an der Spitze des Zuges. Ein plötzlicher Panikanfall konnte sie alle in Gefahr bringen. Und dafür, dass Roger Schüssli seine Nerven und seine Höhenangst sicher im Griff hatte, wollte keiner die Hand ins Feuer legen. Die Furcht vor dem unbekannten Tier mochte vielleicht groß sein, aber ob sie groß genug war? Es darauf ankommen zu lassen, war allen zu gefährlich.
    Der Abstand zwischen Schüssli mit von Stein und dem Rest der Gruppe wurde immer größer. Es war nicht möglich einen Halt einzulegen, da der Weg zu schmal war, um sich auch nur hinzusetzen. Sie mussten in einem einigermaßen gleichmäßigen Tempo gehen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen. Dann erreichten sie schließlich eine breitere Stelle, an der sie rasten konnten.
    Sie warteten auf Schüssli und von Stein. Mehrfach musste er auf Schüssli einreden, um ihn zu den letzten Schritten bis zum Rastplatz zu bewegen.
    Laima spürte, dass sie nur ungern diese sichere Ausbuchtung im Fels verlassen wollte. Der dünne Pfad bedeutete ständige Konzentration und permanente Todesangst. Während ihrer Pause genoss sie jeden Atemzug und versuchte ihrem Körper das Maximum an Entspannung zu geben, das möglich war. Der junge Dropa richtete ein paar Worte an Thian.
    „Der Weg soll bald besser werden, sagt er“, übersetzte von Stein der Gruppe.
    Niemand erwiderte etwas. Alle nahmen diese als Aufmunterung gedachte Nachricht schweigend hin.
     
    Dass der Weg besser werden sollte, stellte sich als falsch heraus.
    „Da kommen wir nie vorbei!“, sagte Sam, der hinter Laima ging.
    Was sich vor ihnen auftat, war ein überhängender Felsen, der so weit aus der Wand ragte, dass er sie geradewegs in den Abgrund stieß.
     
     
     

12
     
    Sie setzten schon lange nicht mehr einen Fuß vor den anderen, sondern bewegten sich flach an den Berg gepresst.
    „Der Vorsprung ist viel zu niedrig. Wir werden abstürzen“, sagte Sam ‚The Rock’.
    Er war der problematischste Kandidat.
    „Es wird schon irgendwie gehen“, sagte Laima. „Wenn wir uns an den Händen halten, sollten wir es schaffen.“
    Das Gleichgewicht ihres Körpers hielt sich auf dem schmalen Grat eben die Waage. Die Klippe vor ihnen zwang sie in die Knie, sodass sie ihren Schwerpunkt weiter über den Abgrund verlagern mussten. Der Fels bot kaum halt. Die einzige Möglichkeit bestand darin, dass sie sich gegenseitig festhielten. Der junge Dropa war bereits am Hindernis vorbei. Für eine Sekunde dachte Laima, er könne sie bewusst in eine Falle gelockt haben, um sie in den Tod zu stürzen und den Geiern zum Fraß zu überlassen. Doch dann streckte er ihr seine Hand entgegen.
    „Ich werde ebenfalls versuchen dich festzuhalten, Laima“, sagte Sam. „Auch wenn ich fürchte, mit meinem Gleichgewicht genug zu tun zu haben.“
    Laima musste sich bücken. Jetzt durfte sie nicht abrutschen. Auch wenn der Junge und Sam sie hielten, mussten sie im Zweifelsfall loslassen, um nicht mit in den Tod gerissen zu werden. Sie durfte nicht nach unten sehen. Mehrere hundert Meter freier Fall. Sie hing an zwei Händen. An Sams und der des Jungen. Sie musste vertrauen. Zweifel waren ihr sicherer Tod. Sie merkte, wie ihre

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