Die Wespenfabrik
die
Drachen, und ich wußte, daß ich das
›Fliegenlassen‹ für alle Zeiten aufgeben mußte,
um meine Darstellung realistisch aussehen zu lassen, aber diesen
Preis war die Sache wert. Esmeralda wurde nie gefunden; ich war der
letzte, der sie je gesehen hatte, das erbrachten Diggs
Nachforschungen bei den Fischern und Leuten auf den Bohrinseln.
Ich hatte also die Punktegleichheit wiederhergestellt und mir
selbst eine wundervolle, wenn auch anstrengende Woche der
Schauspielerei beschert. Die Blumen, die ich immer noch umklammert
hatte, als man mich zum Haus zurücktrug, waren mir mit sanfter
Gewalt einzeln aus den Fingern genommen worden und lagen jetzt in
einer Plastiktüte auf dem Kühlschrank. Ich entdeckte sie
dort zwei Wochen später, verwelkt und verschrumpelt, vergessen
und unbeachtet. Ich nahm sie mit auf den Dachboden hinauf und packte
sie in die Truhe, und dort bewahre ich sie heute noch auf, getrocknet
zu kleinen braunen verzwirbelten Streifen wie altes Klebeband,
eingepfercht in einer kleinen Glasflasche. Manchmal frage ich mich,
wo meine Cousine wohl ihr Ende gefunden haben mochte; auf dem
Meeresgrund und an einer schroffen, einsamen Küste
angespült oder zerschmettert an einem steilen Berghang, um von
den Möwen oder Adlern aufgefressen zu werden…
Am besten gefällt mir die Vorstellung, daß sie noch
während des Fluges mit dem riesigen Drachen gestorben ist,
daß sie die Welt umkreiste und immer höher stieg,
während ihr Tod durch Verhungern und Verdursten nahte und sie
immer leichter wurde, bis sie schließlich nur noch ein winziges
Skelett war, das auf den Strahlströmen des Planeten dahinglitt,
eine Art Fliegende Holländerin. Doch ich bezweifle, daß
diese Ausgeburt meiner Fantasie auch nur im entferntesten etwas mit
der Wirklichkeit zu tun hat.
Den Sonntag verbrachte ich hauptsächlich im Bett. Nach meiner
Sauferei in der Nacht zuvor hatte ich nur den Wunsch nach Ruhe, viel
Flüssigkeit, wenig Nahrung und daß mein Kater verschwinden
würde. Ich hatte das Bedürfnis, mir auf der Stelle und
sofort vorzunehmen, mich nie mehr zu betrinken, und da ich noch so
jung war, beschlich mich die Vermutung, daß ein solcher
Entschluß nicht ganz realistisch sein würde, also nahm ich
mir vor, mich nie mehr so sehr zu betrinken.
Mein Vater kam und klopfte an meine Tür, nachdem ich nicht
zum Frühstück erschienen war.
»Und was fehlt dir, sofern sich diese Frage nicht
erübrigt?«
»Nichts«, krähte ich in Richtung Tür.
»Schön wär’s«, sagte mein Vater
sarkastisch. »Und wieviel hast du gestern abend
getrunken?«
»Nicht viel.«
»Aha«, sagte er.
»Ich komme gleich runter«, sagte ich und schaukelte im
Bett vor und zurück, um ein Geräusch zu erzeugen, das sich
so anhören sollte, als ob ich aufstünde.
»Hast du gestern abend angerufen?«
»Was?« fragte ich in Richtung Tür und hörte
mit dem Schaukeln auf.
»Das warst doch du, oder? Das habe ich mir gedacht, du hast
versucht, deine Stimme zu verstellen. Was fällt dir ein, um eine
solche Zeit anzurufen?«
»Ähm… ich erinnere mich nicht, daß ich
angerufen habe, Dad, ehrlich«, sagte ich vorsichtig.
»Hm. Du bist ein Narr, mein Junge«, sagte er und tapste
durch den Flur davon. Ich lag da und dachte nach. Ich war mir
ziemlich sicher, daß ich am vergangenen Abend nicht zu Hause
angerufen hatte. Ich war mit Jamie in der Kneipe gewesen, dann mit
ihm und dem Mädchen zusammen auf der Straße, ich war
allein weggerannt, anschließend war Jamie wieder bei mir und
schließlich waren wir zusammen bei seiner Mutter gewesen, und
zuletzt war ich fast nüchtern nach Hause gegangen. Ich hatte
keinerlei Gedächtnislücken. Deshalb vermutete ich,
daß es Eric war, der angerufen hatte. Wie es sich anhörte,
konnte mein Vater nicht allzu lange mit ihm gesprochen haben, sonst
hätte er die Stimme seines Sohnes erkannt. Ich legte mich in
meinem Bett zurück und hoffte, daß Eric noch immer wohlauf
war und sich in diese Richtung bewegte, und außerdem, daß
mein Kopf und meine Eingeweide endlich aufhören würden mich
daran zu erinnern, wie ungemütlich sie sich anfühlen
konnten.
»Wie siehst du bloß aus?« sagte mein Vater, als
ich endlich im Morgenmantel nach unten kam, um mir einen alten Film
anzugucken, der an diesem Nachmittag im Fernsehen lief. »Ich
hoffe, du bist stolz auf dich. Ich hoffe, du denkst, daß dieses
Gefühl aus dir einen Mann macht.« Mein Vater schnalzte
mehrmals mit der Zunge und schüttelte den Kopf, dann
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