Die Wespenfabrik
prallte auf Esmeralda, was ihr einen Schrei entlockte. Sie
ließ die Leinen los, als das erste heftige Zerren die
Nylonschnur gestrafft hatte; nun stand sie da und schaute zu mir
zurück, während ich mich bemühte, die Beherrschung
über die Vorgänge am Himmel über uns zu erlangen. Sie
hielt immer noch die Blumen umklammert, und mein Ziehen an den Leinen
bewegte ihre Hände wie die einer Marionette, da sie immer noch
in den Schlaufen steckten. Die Winde ruhte an meiner Brust, das Seil
hing ein wenig schlaff zwischen ihr und meinen Händen. Esmeralda
sah sich ein letztes Mal zu mir um, kicherte, und ich lachte
zurück. Dann ließ ich die Leinen los.
Die Winde schlug ihr ins Kreuz, und sie schrie gellend auf. Die
Leinen zerrten an ihr, sie wurde hochgehoben, und die Schlaufen um
ihre Handgelenke zogen sich zusammen. Ich taumelte zurück,
einerseits, um ein gutes Bild abzugeben für den
unwahrscheinlichen Fall, daß doch jemand die Szene beobachtete,
und andererseits, weil das Loslassen der Winde mich aus dem
Gleichgewicht gebracht hatte. Ich stürzte in dem Moment zu
Boden, in dem Esmeralda ihn für immer verließ. Der Drachen
knatterte und flatterte und flatterte und knatterte, und er hob das
Mädchen von der Erde ab hinauf in die Luft, samt Winde und
allem. Ich lag auf dem Rücken und sah ihr ein paar Sekunden lang
nach. Dann rappelte ich mich auf und rannte, so schnell ich konnte,
hinter ihr her, auch wieder weil ich genau wußte, daß ich
sie nicht würde einholen können. Sie schrie und zappelte
voller Verzweiflung mit den Beinen, doch die grausamen Schlaufen aus
Nylonschnur gaben ihre Handgelenke nicht frei, der Drachen war in den
Klauen des Windes, und sie war längst außerhalb meiner
Reichweite, auch wenn ich sie wirklich hätte halten wollen.
Ich rannte und rannte, sprang vom Gipfel einer Düne und
rollte ihren seewärtigen Abhang hinunter, während ich der
winzigen strampelnden Gestalt nachschaute, die immer höher und
höher in den Himmel getragen wurde und mit dem Drachen
davonsegelte. Ich konnte ihr Brüllen und Heulen nur noch schwach
vernehmen, ein dünnes Wimmern, das der Wind an mein Ohr trug.
Sie schwebte hoch über dem Sandstrand und den Felsen und hinaus
aufs Meer, während ich unter ihr mitrannte, der Erschöpfung
nahe, und die verhakte Seilwinde unter ihren zappelnden
Füßen beobachtete. Ihr Kleid bauschte sich um sie herum
auf.
Sie stieg höher und höher, und ich hörte nicht auf
zu rennen, inzwischen längst vom Wind und dem Drachen
abgehängt. Ich rannte durch die gekräuselten Tümpel am
Rand des Meeres, dann bis zu den Knien hinein ins Wasser.
Plötzlich fiel etwas, das zuerst wie ein einziges Ding erschien
und sich dann auflöste und zerstob, von ihr herab. Zunächst
dachte ich, sie hätte sich in die Hose gemacht, doch dann
erkannte ich die Blumen, die vom Himmel herabtrudelten und weit vor
mir wie ein sonderbarer Regen auf dem Wasser auftraf. Ich watete
durch die Untiefen hinaus, bis ich sie erreichte, und sammelte sie
ein, soweit es mir gelang, wobei ich ab und zu den Blick von meiner
Ernte hob und hinaufsah zu Esmeralda und dem Drachen, die in die
Nordsee hinaustrieben. Flüchtig kam mir in den Sinn, daß
sie sie womöglich tatsächlich überqueren könnte
und wieder auf Land träfe, bevor der Wind abflaute, doch ich war
der Ansicht, daß, selbst wenn das geschähe, ich mein
Bestes getan hatte und der Ehre Genüge getan wäre.
Ich sah ihr nach, wie sie kleiner und kleiner wurde, dann wandte
ich mich um und entfernte mich in Richtung Land.
Mir war klar, daß drei Todesfälle in meiner
unmittelbaren Umgebung innerhalb von vier Jahren zwangsläufig
Verdacht erregen mußten, und ich hatte meine Reaktion bereits
sorgfältig geplant. Ich rannte nicht auf direktem Weg zum Haus
zurück, sondern ging wieder in die Dünen und setzte mich
dort mit den Blumen in der Hand hin. Ich sang mir selbst Lieder vor,
dachte mir Geschichten aus, wurde hungrig, rollte mich ein
bißchen im Sand herum, rieb mir ein wenig davon in die Augen
und versuchte insgesamt, mich in einen Seelenzustand
hineinzusteigern, der wie eine schreckliche Verfassung für einen
kleinen Jungen anmuten mußte. Bei Einbruch des Abends saß
ich immer noch so da und starrte aufs Meer hinaus, als ein junger
Waldarbeiter, der in der Stadt wohnte, mich fand.
Er gehörte zu dem Suchtrupp, der von Diggs zusammengetrommelt
worden war, nachdem mein Vater und meine Verwandten uns vermißt
hatten und uns nirgends finden konnten und die
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