Die Wespenfabrik
Dachfenster zum
Festland hin ganz auf und bastelte aus einem alten, verblaßten
Vorhangstoff ein Sitzkissen. Ich nahm auf meinem kleinen Thron Platz
und blickte durch das Fernglas. Nach einer Weile kramte ich aus der
Tiefe der Kiste mit Spielzeug das alte Bakelit-Röhren-Radio
hervor und steckte den Anschluß mit einem Zwischenstecker in
die zweite Lichtbuchse. Ich stellte den Sender Radio Drei ein, der
eine Wagner-Oper brachte; das war genau das Richtige, um mich in
Stimmung zu versetzen, dachte ich. Ich ging wieder ans
Dachfenster.
An einigen Stellen war die Wolkendecke aufgerissen; die
Löcher bewegten sich langsam und tauchten einige Flecken der
Landschaft in ein messingfarbenes, glimmerndes Sonnenlicht. Manchmal
fiel das Licht auf das Haus; ich beobachtete, wie der Schatten meines
Schuppens langsam herumwanderte, während sich der
Spätnachmittag zum Abend neigte und sich die Sonne langsam
über den ausgefransten Wolken bewegte. Ein träges Muster
aus reflektierenden Fenstern der neuen Siedlung glitzerte durch die
Bäume, ein wenig höher als der alte Teil der Stadt. Nach
und nach hörte eine Reihe von Fenstern auf, die Sonnenstrahlen
zurückzuwerfen, nach und nach übernahmen andere ihre
Stelle, jeweils unterbrochen von gelegentlichem Aufblitzen, wenn
Fenster geschlossen oder geöffnet wurden oder Autos durch die
Wohnstraßen fuhren. Ich trank etwas von dem Saft und behielt
die Eiswürfel im Mund, während der heiße Atem des
Hauses um mich herum wehte. Ich setzte meine Beobachtung mit dem
Fernglas ununterbrochen fort und suchte die Gegend so weit nach
Norden und Süden ab, wie ich konnte, ohne aus dem Dachfenster zu
fallen. Die Oper war zu Ende und wurde abgelöst von
irgendwelcher schrecklicher moderner Musik, die an einen
Häretiker auf der Folterbank und an den brennenden Hund
erinnerte, die ich jedoch spielen ließ, weil sie mich am
Einschlafen hinderte.
Kurz nach halb sieben klingelte das Telefon. Ich machte einen Satz
aus dem Sessel, raste zur Tür und verließ den Dachboden
über die Treppe nach unten rutschend, packte den Hörer, hob
ihn von der Gabel und zu meinem Mund – alles in einer einzigen
gezielten Bewegung. Ich empfand einen Schwall von erregter Genugtuung
darüber, daß ich heute so ungeheuer koordiniert vorging,
und sagte ziemlich ruhig: »Ja?«
»Frang?« sprach die Stimme meines Vaters gedehnt und
lallend. »Frang? Bissu das?«
Ich verbarg die Verachtung nicht in meinem Ton, als ich sagte:
»Ja, Dad, ich bin’s. Was ist los?«
»Ich bin inner Stadt, mein Sohn«, sagte er leise, als ob
er kurz davor wäre zu weinen. Ich hörte, wie er tief Luft
holte. »Frang, du weiß’, daß ich dich immer
gelieb’ hab’. Ich… ich ruf’ ausser Stadt an, mein
Sohn. Kannsu herkom’, mein Sohn, kannsu… komm her. Man hat
Eric geschnappt, mein Sohn.«
Ich erstarrte. Ich starrte die Tapete über dem kleinen
Tischchen in der Treppenbiegung an, auf dem das Telefon stand. Die
Tapete hatte ein Blattmuster, Grün auf Weiß, mit einer Art
von Gitterwerk, das da und dort durch das Grün lugte. Es verlief
leicht schräg. Ich hatte die Tapete seit Jahren nicht mehr
richtig wahrgenommen, bestimmt nicht während all der Jahre, in
denen ich ans Telefon gegangen war. Sie war abscheulich. Mein Vater
mußte gesponnen haben, als er sie aussuchte.
»Frang?« Er räusperte sich. »Frang, mein
Sohn?« sagte er mit fast klarer Aussprache, dann rutschte er
wieder ins Lallen ab. »Frang? Bissu noch da? Sama’, mein
Sohn… sag ma’, Junge. Ich ha’ gesagt, man hat Eric
geschnappt. Hassu gehört? Frang, bissu noch da?«
»Ich…« Mein ausgetrockneter Mund versagte mir den
Dienst, und der Satz verebbte. Ich räusperte mich gründlich
und fing noch mal an: »Ich habe dich gehört, Dad. Man hat
Eric geschnappt. Ich habe verstanden. Ich bin gleich dort. Wo treffe
ich dich? Auf der Polizeiwache?«
»Nö, nö, mein Junge. Nö, vielleich’
treff’n wir uns vo’ de’… vo’ de’
Büch’rei. Ja, die Büch’rei. Da treff’n wir
uns.«
»Die Bücherei?« sagte ich. »Warum
ausgerechnet dort?«
»Gut, bis’ann, mein Junge. Beeil dich, ja?« Ich
hörte, wie er ein paar Sekunden lang mit dem Hörer
herumpolterte, dann war die Verbindung abgebrochen. Ich legte langsam
den Hörer auf, spürte etwas Scharfes in der Lunge, eine
Empfindung von Stahl, die im Rhythmus des Pochens meines Herzens und
meines leeren Kopfes pulsierte.
Ich blieb noch eine Weile so stehen, dann ging ich die Treppe zum
Dachboden hinauf,
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