Die widerspenstige Braut (German Edition)
entfernt. Es klang, als ob ein Tier auf dem Gebäude herumstreichen würde. Neugierig erhob er sich und ging zum Fenster.
Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Nacht. Wieder erklang das Geräusch, und nun hörte er, dass es von dem Baum kam, der vor Veritys Fenster stand. Er blickte forschend in die Dunkelheit und nahm eine undeutliche Gestalt war, die sich zwischen den hohen Ästen in der Nähe des Gebäudes und dem Sims ihres Fensters regte.
Die Gestalt bewegte sich mit schwungvoller Anmut und löste sich vom Gebäude. Die Brise trug einen leisen Freudenjauchzer zu ihm herüber.
Er war nicht besonders überrascht. Schließlich hatte er sie praktisch herausgefordert, den Baum hinunterzuklettern. Oder sie mit den Anspielungen auf potenzielle Freiheit gelockt.
Einen Vierminutenbaum hatte sie es genannt.
Sie war den großen Apfelbaum in Daphnes Garten nie wirklich hinaufgeklettert. Die engen Röcke ihrer Kleider hatten das nicht zugelassen. Doch mithilfe einer Leiter war es ihr stets gelungen, einen niedrigen Ast zu erreichen, von dem aus sie den Stiel eines Rechens eingesetzt hatte, um die höheren reifen Früchte herunterzuschlagen.
Es war also Jahre her, seit sie so etwas das letzte Mal getan hatte, aber sie hatte nichts verlernt. Nachdem sie den Stoff ihres Unterrocks zwischen ihren Beinen und dann noch einmal an ihren Knien zusammengebunden hatte, war es ihr möglich gewesen, einigermaßen geschickt zu klettern. Das Gewand diente dem Zweck, dass Verity sich selbst und den Baum in dieser Nacht austesten konnte. Das nächste Mal, wenn sie für immer ging, würde sie etwas weniger Lächerliches zum Anziehen finden müssen.
Sie schwang sich auf den Baum, und eine längst vergessen geglaubte mädchenhafte Aufregung durchströmte sie. Hoch oben in einem Baum fühlte man sich wie ein Vogel. Es war ganz anders, als aus einem Fenster zu blicken, denn es fühlte sich auch geheimnisvoll und privat an. Die Äste bildeten ein kleines Zuhause, das niemand sonst betreten konnte.
Sie setzte sich auf einen dicken Ast und sah nach oben. Es war nicht viel vom Mond zu sehen, aber die Sterne strahlten sehr hell. Sie genoss es, wie die Blätter vor dem Himmel flatterten und was für wunderschöne Muster sie bildeten.
Tief sog sie die Meeresluft und das Versprechen von Freiheit ein. Sie hatte nicht erwartet, dass sich Letzteres so sehr auf sie auswirken könnte, doch sie fühlte sich richtiggehend trunken davon.
Die Möglichkeit, endlich wieder lebendig durch die Welt zu gehen, berauschte sie. Sie spürte, wie die vorsichtige, zurückhaltende Art, die sie nach dem Tod ihres Vaters angenommen hatte, aufbrach. Sie wollte sie wie eine Haut abstreifen, die nicht länger zu ihr passte. Während sie in diesem Baum saß, kostete sie erneut von der Lebensfreude, die sie als Kind gekannt hatte.
Auf einmal verspürte sie das unerklärliche Verlangen zu lachen. Grundlos breitete sich ein Lächeln in ihrem Gesicht aus. Sie erkannte die Verity Thompson aus längst vergessener Zeit, die in diesen letzten Tagen wieder erwacht war. Diese Verity kam ihr nach all den Jahren wie eine Fremde vor, da sie in der Zeit, die sie geschlafen hatte, erwachsen geworden war.
Erinnerungen an Michael flogen ihr zu, lebhafter als seit vielen Monaten. Sie sah ihn als Kind und als Jungen und als Jugendlichen, der ihr diesen ersten Kuss gestohlen hatte. Sie sah sein schiefes Lächeln über die Jahre hinweg und die Abwesenheit jenes Lächelns, als sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Damals war sie zu Katys Haus geschlichen, nur um ihn voller Wut auf die Welt vorzufinden.
Er war ein ganz anderer Typ als Hawkeswell. Sie kannte Michael so gut, wie sie sich selbst kannte, und ein Teil von Hawkeswell würde für sie immer ein Rätsel bleiben. Vielleicht hatte sie dieses Rätsel dazu gebracht, während seiner Küsse so zu reagieren, wie sie es getan hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Michael sie so etwas fühlen ließ. Das wollte sie auch gar nicht.
Sie schloss ihre Augen und stellte sich erneut Michael vor. Sie versuchte dennoch, etwas von dieser Aufregung heraufzubeschwören. Es wäre wahrscheinlich gut, zumindest ein wenig davon zu haben, wenn er zustimmen sollte, sie zu heiraten. Natürlich musste sie zuvor herausfinden, ob er überhaupt noch am Leben war und wo er sich befand und ob sie ungeschehen machen konnte, was Bertram ihm möglicherweise angetan hatte. Dennoch, wenn all das überwunden war und sie in jenem Haus zusammenlebten,
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