Die widerspenstige Lady
seit Fenwick-Clyde sie aufs Unerträglichste unterdrückt hatte, lehnte sie sich gegen jeden auf, der versuchte, ihr auch nur die geringsten Vorschriften zu machen. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, musste sie gestehen, dass sie schon von jeher ein rebellisches Geschöpf gewesen war. Seit ihrer Ehe war es nur schlimmer geworden.
Erneut schenkte er sich nach, hob das Glas und prostete ihr zu. „Ich verstehe Sie vollkommen. Sie sind ein Blaustrumpf und eine Revolutionärin. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Mut. Fühlen Sie sich auf Rosemont also bitte wie zu Hause. Falls es Ihnen gleich ist, was die Leute reden, mir ist es das ohnehin.“
Ihr verschlug es die Sprache. Nie hätte sie damit gerechnet, die Schlacht so leicht für sich zu entscheiden. „Wieso haben Sie plötzlich Ihre Meinung geändert? Vor einigen Stunden haben Sie doch noch darauf bestanden, dass ich augenblicklich aus Ihrem Haus verschwinde.“
„Vorhin war mir daran gelegen, ihretwegen den gesellschaftlichen Gepflogenheiten Genüge zu tun. Aber da ich nun weiß, dass Sie sich nicht um derlei Dinge scheren, sehe ich meinerseits keinerlei weitere Verantwortung für Sie. Ich bin nach Hause zurückgekehrt, um mich zu erholen und auszuruhen – nicht um mit einer Frau zu streiten, die ich kaum kenne.“ Wieder nahm er einen großen Schluck Cognac. „Und tatsächlich bewundere ich Ihren Mut.“
Sie traute ihren Ohren kaum. „Wie bitte?“
„Sie haben richtig gehört. Ich bewundere Sie.“
„Deshalb darf ich bleiben?“
Er nickte, und ein sonderbares Leuchten trat in seine grünen Augen. „Wenn Sie also keine Angst haben, soll es mir recht sein.“
„Nun, Sir, Mut ist nicht meine einzige herausragende Eigenschaft. Ich bin auch ausgesprochen stur.“
Scheinbar gleichgültig zuckte er die Schultern. „Mag sein. Aber davon einmal abgesehen, habe ich gerade einen Brief meiner Stiefmutter erhalten. Sie wird in Kürze mit meinen Geschwistern hier eintreffen. Tatsächlich hat sie London bereits verlassen, sobald sie von meiner Rückkehr nach England erfuhr.“
„Ah.“ Das erklärte einiges. „Eine Anstandsdame von unzweifelhaftem Ruf.“
„Sie dürfte ungefähr in Ihrem Alter sein oder ein wenig jünger. Mein Vater hat sie erst sehr spät geheiratet.“
„Wie bitte? Na, dann ist sie ja die ideale Kandidatin, um meine Ehre zu retten. Wie kann der ton nur annehmen, dass eine so junge Frau Sie davon abhalten könnte, mich arme Witwe zu verführen? Da sehen Sie, wie das weibliche Geschlecht gegängelt wird.“
„Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Doch so liegen die Dinge nun einmal.“
Wollte er sie zu einem weiteren Ausbruch provozieren, wie ihre Brüder es sonst taten? Ganz gleich, es wurde Zeit, für heute vom hohen Ross herabzusteigen. Darüber hinaus wollte sie wieder zurück zur Ausgrabungsstätte und sehen, ob es heute noch etwas zu tun gab.
Sie erhob sich. „Dann darf ich Sie jetzt Ihren Vergnügungen überlassen.“
Lächelnd nickte er. „Das dürfen Sie jederzeit.“
Strafend sah sie ihn an, weil sie zu Recht vermutete, dass es sich hierbei um eine anzügliche Bemerkung gehandelt hatte. „Wie ich höre, Sir, kennen Sie diesbezüglich keinerlei Zurückhaltung.“
Ungerührt sah er zu ihr auf. „Unsere Zeit hier auf Erden ist kurz, und ich gedenke nicht, sie zu verschwenden. Danach kann mich meinetwegen der Teufel holen.“
„Sie sind also ein Hedonist, der allein für den Genuss lebt.“
„Völlig richtig“, bestätigte er zufrieden.
„Eines Tages wird Ihnen kurzlebiges Amüsement nicht mehr reichen“, mahnte sie.
„Das bezweifle ich.“
„Abwarten.“
Annabell war noch nie einer Auseinandersetzung ausgewichen. Nicht einmal bei ihrem Gemahl, was sie hinterher oft bereuen musste. Dennoch war sie stets für sich selbst eingetreten, selbst bei den Pflichten, die sie als Gemahlin nun einmal zu erfüllen hatte. Ein Schaudern überlief sie.
„Fühlen Sie sich nicht wohl?“ Er stand ganz nah bei ihr, fast hätte er sie berührt. „Sie wurden plötzlich ganz blass.“
Blinzelnd stellte sie fest, dass sie mit geballten Händen dastand. Es musste ewig her sein, dass sie daran gedacht hatte, was der Gemahl im Schlafzimmer von ihr verlangt hatte. Weshalb fiel es ihr ausgerechnet jetzt wieder ein?
„Danke, es geht mir gut. Nichts als alte Erinnerungen.“ Das hätte weit überzeugender geklungen, warum nur hatte ihre Stimme dabei so zittern müssen. Manchmal konnte sie sich selbst nicht ausstehen. „Nur keine Sorge.
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