Die widerspenstige Lady
kaum Luft.
Sie nahm den Schlüssel, ging zur Tür und öffnete sie. Leise betrat sie den Flur. Die Kerzen, die ihn sonst erleuchteten, hatte man gelöscht. Es mussten wohl schon alle im Bett sein. Vorsichtig schlich sie zu Hugos Schlafzimmer. Von drinnen waren Stimmen zu hören. Er war also nicht allein.
Ihr war, als erwachte sie aus einem schönen Traum. Rasch wandte sie sich um. Zweifellos gehörte sie in eine Anstalt – statt in Sir Hugos Bett. Nie zuvor war es ihr in den Sinn gekommen, ein Verhältnis zu einem Mann zu unterhalten, nur um ihre körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Überhaupt hatte sie im Leben noch mit keinem anderen als Fenwick-Clyde geschlafen.
Als wäre sie auf der Flucht, hastete sie zurück in ihr Gemach und drehte wieder den Schlüssel um. Diesmal legte sie ihn ganz oben auf den Schrank, damit sie nicht so leicht wieder herankam. Vielleicht wird mir das beim nächsten Anfall von Versuchung genug Zeit zum Nachdenken verschaffen, hoffte sie.
„Was für ein entzückendes Kleid!“ Bewundernd betrachtete Hugo Annabell, der er am nächsten Morgen auf dem Flur vor den Schlafzimmern begegnete.
„Bestimmt sagen Sie das zu jeder Frau, ganz gleich, was sie trägt“, entgegnete sie schlecht gelaunt.
„Im Gegenteil“, widersprach er. „Ich lüge weder, was meine Gefühle angeht, noch verschleiere ich meine Ziele.“
„Haben Sie noch immer Schmerzen?“, erkundigte sie sich.
„Wollen Sie ablenken?“
„Wahrscheinlich“, gestand sie mit einem Schulterzucken.
„Standen Sie gestern Nacht vor meiner Tür?“, fragte er leise und sah sie an.
„Natürlich nicht.“
Zweifelnd hob er eine Braue. „Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Für einen der Dienstboten war es zu spät, und Jamison war bei mir.“ Prüfend musterte er sie.
Heiß stieg ihr das Blut in die Wangen. „Also gut“, gab sie wütend zu. „Ich war da. Aber nur, um mich noch einmal nach Ihrem Befinden zu erkundigen.“
„Das hatten Sie doch kurz zuvor schon in der Bibliothek getan.“ Als sie eine Antwort schuldig blieb, fügte er hinzu: „Sie wollten aus einem anderen Grund zu mir.“
„Es … stimmt“, gestand sie endlich. „Ich … ich wollte.“ Sie senkte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
Zärtlich legte er ihr die Hände auf die Schultern. „Du willst, dass ich dich liebe, Annabell. Möchtest endlich wissen, wie es sein kann zwischen einem Mann und einer Frau, die einander begehren.“
Verhalten nickte sie. „Ich hätte das nie für möglich gehalten.“
Hinter den beiden erklangen Schritte. Sie lösten sich eilig voneinander, doch es war ihnen anzusehen, wie aufgewühlt sie waren.
Juliet kam um die Ecke des Flurs und betrachtete die beiden nachdenklich. „Guten Morgen“, begrüßte sie den Stiefsohn und dessen Gast. „Offenbar komme ich ungelegen. Aber so geht es eben, wenn man Privates nicht unter vier Augen bespricht.“
„Zu wahr“, entgegnete Hugo trocken.
„Ich sollte jetzt hinuntergehen“, sagte Annabell hastig. „Verzeihen Sie mir bitte, Juliet, dass ich Ihnen ein solches Zusammentreffen zugemutet habe.“
„Manchmal lässt das Herz uns die Mahnungen des Verstandes vergessen, Annabell“, bemerkte Juliet begütigend. „Ich bin dennoch froh, dass ich es war, die euch hier entdeckte.“
„Sie sind eine wirkliche Freundin“, flüsterte Annabell und eilte davon.
Hugo sah ihr nach, bevor er erklärte: „Wir waren sehr indiskret. Bitte um Vergebung, Juliet.“
Liebevoll legte sie ihm die Hand auf den Arm. „Brich ihr nicht das Herz, Hugo. Das hat sie nicht verdient.“
„Derlei habe ich keineswegs vor.“
„Sind deine Absichten also ehrenwert?“
„Lady Fenwick-Clyde ist eine Witwe, die genau weiß, worauf sie sich einlässt, Juliet. Ebenso wie du.“
Die Stiefmutter errötete. „Du hast recht, Hugo. Es geht mich nichts an. Dennoch kann ich nur hoffen, dass du weißt, was du tust.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sie ihn stehen.
Bedauerlicherweise musste er Juliet eigentlich zustimmen. Allerdings hatte er nicht vor, sich deshalb zurückzuhalten.
In der Eingangshalle traf Annabell auf den Butler.
„Ein Brief für Sie, Mylady.“
„Danke, Butterfield.“ Lächelnd ergriff sie das dargebotene Schreiben. Er stammte von ihrer Schwägerin, Felicia Viscountess Chillings.
Sie ging in die Bibliothek, wo sie ungestört sein würde. Nachdem sie im chintzbezogenen Sessel Platz genommen hatte, brach sie das Siegel und entfaltete das Papier.
Liebste
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