Die Wiedergeburt
– und genau deshalb werde ich dich nicht länger belasten. Ich weiß, wie sehr dir meine Gegenwart zu schaffen macht.« Er legte ihr eine Hand auf die Wange und strich sanft darüber. »Gib auf dich acht.«
Dann wandte er sich ab und ging langsam davon.
Der Gedanke, ihn niemals wiederzusehen, schmerzte mehr, als jede Verletzung es jemals getan hatte. Sie hatte sich so sehr an seine Nähe gewöhnt, dass sie sich nicht vorstellen konnte, plötzlich ohne ihn zu sein. Dieser Mann berührte ihr Herz tiefer, als sie sich einzugestehen wagte. Er hatte ihr die Einsamkeit genommen, und jetzt stieß er sie in ihre Isolation zurück. Nicht er – eine Prophezeiung, ausgesprochen vor fünfhundert Jahren!
Sie hatte ihre Eltern und ihren Bruder verloren, die einzigen Menschen, die ihr je etwas bedeutet hatten. Sie war damit fertig geworden. Bei dem Gedanken, jetzt auch noch Lucian zu verlieren, spürte sie zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Familie Tränen in sich aufsteigen. Nur mit ihrem Weggang konnte sie ihn retten! Doch sich das ins Gedächtnis zu rufen, linderte den Schmerz nicht, der sie innerlich zu zerreißen drohte. Sie blinzelte gegen den Schleier an, der ihr den Blick auf Lucians Rücken vernebelte, doch es half nichts. Die Tränen quollen über und rannen brennend heiß über ihre Wangen, als die Welt, die sie kannte, über ihr zusammenstürzte.
Entschlossen wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, doch es folgten immer neue. »Könntest du dir vorstellen …« Die Worte kamen so leise aus ihrem Mund, dass sie sie selbst kaum zu hören vermochte. »Würdest du …«, setzte sie an, und wieder erstickte ihre Stimme. Als er schließlich die Tür erreichte, flüsterte sie: »Lass mich nicht allein. Bitte.« Entsetzt stand sie da und hielt den Atem an. Wie konnte sie so etwas sagen! Sie musste ihn gehen lassen! Obwohl die Worte unsicher und kaum verständlich aus ihrem Mund gestolpert waren, hatte Lucian sie vernommen. Er blieb stehen. Noch immer wandte er ihr den Rücken zu, die Hand an der Türklinke, doch statt sie hinunterzudrücken und die Tür zu öffnen, zog er die Hand zurück.
»Vielleicht hast du ja recht, und wir sind wirklich …« Hör auf! , schrie alles in ihr. Versuch nicht, ihn zurückzuhalten! Schick ihn fort, bevor es zu spät ist!
Noch immer wandte er sich nicht zu ihr um, schüttelte nur den Kopf. »Ein vielleicht genügt mir nicht.«
Wieder streckte er die Hand nach der Klinke aus. Da sagte Alexandra: »Du siehst nicht aus wie er.« Zumindest das sollte er wissen, ehe er ging.
Nun drehte er sich doch zu ihr um, die Züge erfüllt von offenem Erstaunen. Ohne Unterbrechung, aus Furcht, er könne sich doch noch abwenden und gehen, fuhr Alexandra fort. »Du hast kleine Fältchen um Mund und Augen. Ich weiß, dass du nicht alterst. Du musst sie also schon als Mensch gehabt haben. Solche Fältchen kommen vom Lächeln – das hast du nicht verlernt. Ich habe es oft genug gesehen. Die Züge deines Bruders waren glatt. Als hätte er niemals wirklich gelacht. Dir fehlt auch der grausame Zug um den Mund, den er hatte, und dein Blick ist nicht kalt, sondern voller Wärme, und … und …« Liebe.
Bei jedem ihrer Worte war er ein Stück näher gekommen. Jetzt stand er wieder vor ihr und betrachtete erstaunt die Tränen auf ihren Wangen. »Wann hast du mich so genau angesehen?«
»Es ist schwer, es nicht zu tun«, gestand sie leise. »Ich habe mich lange gezwungen, diese Unterschiede nicht zu sehen, aus Angst, mir eingestehen zu müssen, dass du nicht bist wie er.«
»Du hattest Angst, dass ich kein Monster sein könnte?«
Sie schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Ich habe Angst, dich zu lieben und dann zu verlieren. Diese Prophezeiung – ich will dich nicht umbringen!«
»Ich lebe seit mehr als einem halben Jahrtausend«, sagte er. »Denkst du, mein Tod würde mir etwas bedeuten? Glaubst du wirklich, ich will weitere Jahrhunderte existieren – ohne dich?«
Noch immer wich sie seinem Blick aus. »Du nimmst deinen Tod in Kauf, nur um …«
»… um mit dir zusammenzusein.« Er legte ihr eine Hand unters Kinn und hob ihren Kopf, sodass sie ihn ansehen musste. Mit dem Daumen wischte er ihr die Tränen von den Wangen. »Willst du wirklich weitermachen wie bisher? Willst du auf ewig einsam und allein bleiben, aus Furcht, dein Glück könne dir wieder genommen werden? Ist es nicht besser, wenige glückliche Augenblicke gehabt zu haben als gar keine?«
Die Tränen nahmen ihr den Atem,
Weitere Kostenlose Bücher