Die Wiedergeburt
Fratze.
»Sie sind kein Mensch«, flüsterte Alexandra.
Er bedachte sie mit jenem erschreckend einnehmenden Lächeln, das ihr mit jedem Mal mehr den Atem zu nehmen schien. »Nein, das bin ich nicht«, erwiderte er ruhig. »Doch ich bin auch nicht das Monster, das Sie in mir sehen wollen.«
Ich weiß , wollte sie sagen, doch das Eingeständnis kam ihr nicht über die Lippen. Sie rang noch nach Worten, als sich ein Schatten über Lucian legte und ihn verschlang.
Zum zweiten Mal in dieser Nacht schreckte Alexandra aus dem Schlaf. Diesmal hatte sie nicht geschrien, doch ihr Herz hämmerte mit schmerzhaft schnellen Schlägen gegen ihren Brustkorb. Sie zog die Beine an und schlang die Arme darum. Das Kinn auf den Knien ruhend, blickte sie in den Raum und wartete, dass sich ihr Herzschlag endlich wieder beruhigte.
Beinahe drei Wochen waren vergangen, seit der Unendliche vernichtet worden war. Seitdem verfolgten die Bilder sie in ihren Träumen. Doch es war nicht nur die Erinnerung an jene Nacht, die sich nicht abschütteln lassen wollte, sondern auch an die Tage davor. Wann immer sie aus einem weiteren Traum aufschreckte, tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass dies ihre Art war, das Geschehene zu verarbeiten. Die meisten Bilder begannen bereits zu verblassen. Heute jedoch war etwas anders. Dieser Schatten, der Lucian verschlungen hatte, war zuvor noch nie dagewesen.
Er ist in Gefahr!
Obwohl es nichts weiter als ein vager Traum war, spürte sie die Bedrohung mit beinahe schmerzhafter Intensität. Sie musste ihn warnen! Doch wie sollte sie das tun, wenn sie nicht einmal wusste, wo er war? Wovor sollte sie ihn überhaupt warnen? Vor einem Traum? Einem Schatten? Das war lächerlich! Abgesehen davon war er noch immer ein Vampyr. Er verdiente es nicht, zu leben! Immer wieder hatte sie sich das einzureden versucht, doch ein Teil von ihr fühlte sich von ihm angezogen wie eine Motte vom Licht.
Lucian Mondragon war auf mehr als nur eine Art gefährlich. Er war ein Vampyr, doch noch beängstigender fand Alexandra, wie viel Raum er in ihrem Leben eingenommen hatte. Durch seine Hartnäckigkeit war er ihr in wenigen Tagen näher gekommen als jeder andere während der letzten zehn Jahre. Umso mehr erleichterte es sie, dass er seit dem Tod des Unendlichen nicht noch einmal zu ihr gekommen war. So musste sie zumindest nicht ständig darum kämpfen, sich seinem Charme und der erschreckenden Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, zu entziehen. Obwohl er behauptet hatte, ihre Gefühle nicht durch die Macht seines Blickes beeinflusst zu haben, weigerte sich Alexandra, das zu glauben.
Nach jener Nacht in Rosslyn hatte sie von ihm verlangt, sich künftig von ihr fernzuhalten. Sie hatte versucht, ihm das Versprechen abzunehmen, nicht noch einmal in ihre Nähe zu kommen. Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann , hatte er daraufhin erwidert.
Dass er ihr seitdem trotzdem fernblieb, bestätigte sie in ihrer Annahme: Er hatte seine Fähigkeiten eingesetzt, um sie zur Zusammenarbeit zu bewegen. Lucian Mondragon hatte sie nur benutzt. Jetzt, da sein verhasster Bruder vernichtet war, gab es für ihn keinen Grund mehr, länger ihre Nähe zu suchen.
*
Als sich draußen der neue Tag ankündigte, tauschte sie ihr Nachtgewand gegen Hemd und Hose und schürte ein Feuer im Kamin, um die klamme Kälte zu vertreiben, die sich in der Kammer ausgebreitet hatte. Sobald die ersten Flammen emporzüngelten, ging sie zum Fenster und beobachtete, wie die Nacht langsam einem düsteren Morgen wich. Schwere graue Wolken hingen über den Dächern, als trachteten sie danach, sie unter ihrer Last zu erdrücken. Aus dem anfänglichen Nieselregen war ein Wolkenbruch geworden. Wenn sie den Kopf wandte, konnte sie einen Blick auf die Candlemaker Row erhaschen. Die wenigen Menschen, die dort zu dieser frühen Stunde bereits unterwegs waren, hasteten mit eingezogenen Köpfen und hochgeschlagenen Mantelkrägen durch die Straßen. Von Zeit zu Zeit rumpelte ein Fuhrwerk über das Kopfsteinpflaster. Nicht zum ersten Mal fragte sich Alexandra, warum sie noch hier war. Womöglich war es an der Zeit, dass sie ihre Sachen packte. Doch wohin sollte sie gehen?
Als sich Daeron und Catherine von ihr verabschiedeten, hatten sie Alexandra angeboten, mit nach Gwydeon House, dem Landgut von Daerons Familie, zu kommen. Einen Moment lang war sie versucht gewesen, das Angebot anzunehmen, doch sie wollte die innige Zweisamkeit der beiden nicht stören.
Catherine und
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