Die Wiederkehr von Sherlock Holmes, Bd. 3
wenn es sich vermeiden ließ.«
»Das läßt sich leicht feststellen. Wenn aber Ihr Freund seinen Verwandten, den Lord MountJames, aufgesucht hat, bleibt der Besuch des wüst aussehenden Burschen zu so später Stunde zu klären und die Aufregung, die er ausgelöst hat.«
Cyril Overton preßte die Hände gegen die Schläfen. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte er.
»Nun, nun, ich habe gerade einen freien Tag und werde gern einen Blick in die Angelegenheit werfen«, sagte Holmes. »Ich würde Ihnen sehr empfehlen, Ihre Vorbereitungen auf das Spiel weiterzutreiben, ohne auf den jungen Gentleman zu rechnen. Es muß sich, wie Sie sagen, um eine Sache handeln, die ihm über den Kopf gewachsen ist, daß es ihn auf diese Weise fortgezogen hat, und die gleiche Sache hält ihn wahrscheinlich auch weiterhin fern. Gehen wir gemeinsam zum Hotel und schauen wir, ob der Portier uns einen neuen Fingerzeig geben kann.«
Sherlock Holmes verstand sich meisterhaft auf die Kunst, einfache Zeugen im Stand der Ungezwungenheit zu halten, und so gelang es ihm, in der Intimität des verlassenen Zimmers, das God frey bewohnt hatte, aus dem Portier alles herauszuholen, was er zu erzählen wußte. Der Besucher vom gestrigen Abend war kein Gentleman, aber auch kein Arbeiter. Der Portier beschrieb ihn als ›durchschnittlich aussehenden Burschen‹, als Mann von fünfzig, mit grauem Bart und blassem Gesicht, in unauffälliger Kleidung, der selber aufgeregt zu sein schien. Der Portier hatte beobachtet, daß ihm die Hand zitterte, als er den Brief übergab. Godfrey Staunton hatte den Brief in die Tasche gestopft. Staunton hatte dem Mann in der Halle nicht die Hand gegeben. Sie hatten einige Sätze gewechselt, von denen der Portier nur das Wort ›Zeit‹ verstehen konnte. Dann waren sie auf die schon beschriebene Art davongegangen. Die Uhr in der Halle hatte halb elf angezeigt.
»Einen Augenblick, bitte«, sagte Holmes und setzte sich auf Stauntons Bett. »Sie sind doch der Tagportier.«
»Ja, Sir. Um elf bin ich mit der Arbeit fertig.«
»Und der Nachtportier hat nichts bemerkt?«
»Nein, Sir. Eine Gesellschaft kam spät aus dem Theater. Sonst niemand.«
»Hatten Sie gestern den ganzen Tag Dienst?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie Mr. Staunton irgendeine Nachricht aufs Zimmer gebracht?«
»Ja, Sir, ein Telegramm.«
»Ah, das ist interessant! Um wieviel Uhr war das?«
»Gegen sechs.«
»Wo war Mr. Staunton, als er es entgegennahm?«
»Hier in diesem Zimmer.«
»Waren Sie dabei, als er es öffnete?«
»Ja, Sir. Ich wartete, ob er eine Antwort schikken wollte.«
»Und? Hat er eine Antwort geschrieben?«
»Ja, Sir. Er hat eine geschrieben.«
»Und Sie nahmen sie entgegen?«
»Nein, er hat sie selbst weggebracht.«
»Aber er schrieb in Ihrer Gegenwart?«
»Ja, Sir. Ich stand neben der Tür und er am Tisch, mit dem Rücken zu mir. Als er mit Schreiben fertig war, sagte er: ›Geht in Ordnung, Portier, ich besorge das selbst.‹«
»Womit hat er geschrieben?«
»Mit einer Feder, Sir.«
»Hat er eines von den Telegrammformularen hier auf dem Tisch benutzt?«
»Ja, Sir, das oberste.«
Holmes erhob sich. Er nahm den Packen Formulare, ging damit zum Fenster und untersuchte gründlich das Blatt, das obenauf lag.
»Schade, daß er nicht mit Bleistift geschrieben hat«, sagte er und warf die Formulare mit einem enttäuschten Achselzucken wieder auf den Tisch. »Wie Sie wohl oft bemerkt haben, Watson, drückt sich dann die Schrift meistens durch – ein Umstand, der schon manche glückliche Ehe auseinandergebracht hat. Aber hier kann ich keine Spur finden. Doch freue ich mich, erkannt zu haben, daß er mit einer breiten Feder schrieb, und ich zweifle kaum daran, daß wir einen Abdruck auf dem Löschblatt finden werden.«
Er riß vom Löschpapier einen Streifen ab und schob uns die folgenden Hieroglyphen zu:
Cyril Overton war sehr aufgeregt. »Halten Sie es gegen den Spiegel!« rief er.
»Das ist nicht nötig«, sagte Holmes. »Das Papier ist dünn, und die Rückseite wird den Text enthüllen. Hier haben wir’s schon.« Er drehte das Blatt um, und wir lasen:
»Das ist also der Schluß des Telegramms, das Godfrey Staunton einige Stunden vor seinem Verschwinden aufgab. Mindestens sechs Wörter sind uns entgangen; aber was übrigbleibt – ›stehen Sie uns bei – um Gottes willen‹ –, beweist, daß er
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