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Die Wiederkehr

Die Wiederkehr

Titel: Die Wiederkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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fort:
»Auch wenn Ihr es mir jetzt vermutlich nicht glauben werdet, mein
Freund, aber ich bin erleichtert, diese Verwundung zu sehen.«
»Zu viel der Gnade«, antwortete Andrej.
»Nein, nein, Ihr missversteht mich«, lenkte von Salm hastig ein.
»Ich meine es ernst. Diese Wunde beweist mir, dass Ihr ein Mensch
seid, Andrej. Und ich bin wirklich erleichtert über diesen Umstand.«
»Was sollte ich denn sonst sein?«, fragte Andrej, während er umständlich wieder in sein Hemd schlüpfte.
Nun war es von Salm, der unter sein Gewand griff und ein eng zusammengerolltes Pergament hervorzog, das mit einem roten Stoffband zusammengehalten wurde. Umständlich löste er den Knoten,
doch statt es zu entrollen, wie Andrej erwartet hatte, schloss er beide
Hände darum und sah Andrej auf sonderbar abschätzende Art an.
»Ihr und Euer Freund, Andrej, seid seit acht Tagen in der Stadt«,
begann er. »Und in jeder dieser acht Nächte, die letzte eingeschlossen, wurde ein Toter gefunden.«
»Wie ungewöhnlich«, spöttelte Andrej.
»Es waren Menschen, die niemand vermisst«, fuhr von Salm ungerührt fort. »Diebe. Mörder. Huren. Gesindel wie der Junge, der in der
letzten Nacht gefunden wurde. Nicht, dass das etwas Ungewöhnliches wäre, nicht einmal in Friedenszeiten. Diese Stadt ist zu groß.
Niemand hätte sich Gedanken darum gemacht, aber es gibt da leider
einen ungewöhnlichen Umstand.« Er legte eine dramatische Pause
ein. »Sie alle sind auf die gleiche Weise ums Leben gekommen wie
dieser Junge. Keiner von ihnen hatte noch einen Tropfen Blut im
Leib.«
»Und nur, weil wir seit dieser Zeit in der Stadt sind…«
Von Salm unterbrach ihn. »Euer Freund, der Mohr, wurde direkt
neben dem Jungen gefunden, Andrej«, erklärte er. »Mehr als ein
Dutzend Zeugen haben ihn gesehen. Er war über und über mit dem
Blut des toten Jungen besudelt.«
»Woher wollt Ihr wissen, dass es Marcos Blut war?«, fragte Andrej.
»Weil wir Euren Freund gründlich untersucht haben«, antwortete
von Salm. »Glaubt mir, er hatte nicht einen Kratzer. Und das gleiche
Dutzend Zeugen bestätigt auch, gesehen zu haben, wie Euer Freund
das Blut des Jungen trank.«
»Das ist doch lächerlich«, antwortete Andrej. Er versuchte seine Jacke zu schließen, aber seine Finger zitterten so stark, dass er Mühe
hatte, die dünnen Lederbänder zu ergreifen.
Von Salm entrollte das Pergament. Am Knistern des Papiers war zu
erkennen, wie alt es sein musste. Einen Moment zögerte der greise
Graf noch, dann beugte er sich vor und hielt ihm das Pergament hin.
Es gelang Andrej, sein erschrockenes Keuchen in einen Laut zu verwandeln, von dem von Salm, so hoffte er, glauben konnte, dass es
sich um ein verunglücktes Lachen handelte.
Das Bild war mit groben, im Laufe vieler Jahre schon verblassten
Tuschestrichen gezeichnet. Der Künstler war nicht sehr talentiert
gewesen. Das Bild sah aus, als wäre es von einem Kind angefertigt
worden, aber dieser Umstand schien seine unheimliche Wirkung
noch zu verstärken, denn man konnte trotz allem nur zu deutlich erkennen, was es darstellte.
Zwei menschliche Gestalten waren auf der unbeholfenen Zeichnung zu erkennen. Auf den allerersten Blick hätte man meinen können, ein Liebespaar zu erblicken, denn es handelte sich um einen
Mann und eine junge, halb entkleidete Frau mit langem Haar, die in
der Umarmung des riesenhaften Mannes lag. Bei genauerem Hinsehen erwies sich die Gestalt des Mannes als nicht menschlich. Er war
zu groß. Seine Proportionen stimmten nicht, und er schien die spitzen
Ohren eines Fuchses und die grässliche Schnauze eines Wolfs zu
haben, die er wie zu einem leidenschaftlichen Kuss gegen die Halsbeuge des Mädchens presste.
»Bitte verzeiht die mangelnde künstlerische Qualität, Andrej«, entschuldigte sich von Salm. »In dieser Hinsicht war ich leider nie sehr
talentiert. Aber ich war auch noch ein Kind, als ich es gezeichnet
habe.«
»Ihr habt die Flügel vergessen«, sagte Andrej spöttisch. »Und haben Fledermäuse nicht kleinere Ohren?«
Von Salm blieb vollkommen ernst, während er das Blatt entgegennahm und mit so behutsamen Bewegungen wieder zusammenrollte,
als handele es sich um den kostbarsten Schatz der Welt. »Ich war
sieben Jahre alt, als ich es gemalt habe«, erläuterte er. »Nach einem
lebenden Vorbild.«
»Ihr glaubt doch nicht etwa an diesen Unsinn?«, fragte Andrej.
»Nein«, antwortete von Salm. »Ich glaube es nicht, ich weiß es. Ich
habe es mit eigenen Augen gesehen,

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