Die Wiege des Windes
zwischen Lütje Horn und den Nordergründen, verloren gegangen war. Zusätzlich suchten Polizeistreifen die Küstengebiete und die möglichen Anlaufhäfen ab. Trevisan hatte sein Büro im zweiten Stock mit dem der Einsatzleitung im Erdgeschoss getauscht und saß hinter einem Funktisch. Ein uniformierter Kollege nahm die Meldungen entgegen und trug sie in einen EDV-gestützten Einsatzkalender ein. Das Suchgebiet wurde auf einer Karte dargestellt, die einen weiteren Bildschirm ausfüllte. Die einzelnen den Suchkräften zugewiesenen Einsatzräume waren farblich gekennzeichnet. Auf dem Plan ein lückenloses Muster. Über ein kleines Icon konnte die jeweilige Einheit, die das Gebiet absuchte, per Mausklick markiert werden. Sofort öffnete sich ein kleines, graues Kästchen, in dem der Rufname der Streife angezeigt wurde.
Trevisan hatte seine beiden Kollegen angewiesen, alle Anwohner und Bekannten nach möglichen Hinwendungsorten zu befragen. Alle Kontakte, die Corde hatte, wurden telefonisch überprüft. Für die Suchaktion hatte Trevisan zusätzliche Kollegen von der Fahndung und von den Rauschgiftermittlern angefordert. Greetsiel und auch die Umgebung von Cordes Wohnhaus wurden überprüft.
Kirner kümmerte sich unterdessen um Liebler, den Verwaltungsbeamten aus Oldenburg, der den schwer verletzten Doktor Esser vertrat. Kirner hatte über seine Dienststelle eine verdeckte Überprüfung des Lebensstils Lieblers und seiner Barschaften in die Wege geleitet. Eigentlich war für alles gesorgt. Die Sache hatte nur einen Haken: Es gab noch keine Spur von Corde.
Trevisan machte sich Vorwürfe. Er hätte Corde spätestens nach dem Anschlag auf Töngen überwachen lassen müssen. Kein glänzender Einstieg für einen Chef der Mordkommission. Mord war das Verbrechen, das in der Bevölkerung am meisten Abscheu und die größte Aufmerksamkeit hervorrief und die deutlichste Beeinträchtigung des subjektiven Sicherheitsgefühles nach sich zog. Ein Verbrechen, das in die Öffentlichkeit ausstrahlte, und bei dem der Chefermittler immer im Scheinwerferlicht stand.
»Hallo, Trevisan. Ist das wirklich alles notwendig? Ein vermisster Kutterkapitän aus Norden ist doch gar nicht unsere Sache.« Kriminalrat Beck hatte unbemerkt über die Telekommunikationszentrale den Lageraum betreten.
Das hatte Trevisan gerade noch gefehlt – als ob es Spaß machen würde, Dutzende von Kollegen draußen herumzuscheuchen. Er warf seinen Kugelschreiber auf den Funktisch und erhob sich. »Wir müssen davon ausgehen, dass ein Verbrechen vorliegt, das in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Mordfall Larsen steht.«
»Dann wäre trotzdem Aurich zuständig. Dieser Einsatz belastet ansonsten unser Budget.«
Trevisan lag die passende Antwort auf der Zunge. Doch er kam nicht mehr dazu, sie auszusprechen. Ein Funkspruch unterbrach. Der uniformierte Beamte schaltete auf Kopfhörer, damit er auch wirklich jedes Wort verstand. Als er die Meldung quittierte, blickten ihn zwei Augenpaare ungeduldig an.
»Und, was ist?«, fragte Trevisan gereizt.
»Sie haben den Kutter knapp drei Meilen oberhalb der Westerbalje ausgemacht. Es ist ein Toter an Bord. Offenbar der alte Skipper.«
*
»Das ist nicht Ihre Schuld«, versuchte Kirner Trevisan zu beruhigen. »Er hätte spätestens nach Larsens Tod wissen müssen, worauf er sich eingelassen hat. Sie waren bei ihm – er schwieg. Er hätte Sie jederzeit anrufen können, er hätte Ihnen erzählen können, was er weiß, damit wir die Lage richtig beurteilen können. Er hat es nicht getan. Es war seine Entscheidung.«
Trevisan saß zusammengesunken an seinem Schreibtisch und starrte mit leeren Augen auf die Tischplatte. »Ich hätte ihn warnen müssen.«
»Ich habe auch Leichen in meinem Keller, das können Sie mir glauben«, sagte Kirner. »Betrachten Sie nur den armen Esser. Er liegt auf der Intensivstation im Koma. Er kann vielleicht nie mehr mit seiner Frau und den Kindern sprechen, wird nie wieder einen Sonnenaufgang sehen, nie wieder den Duft einer Blume riechen. Weil ich ihn nicht ausreichend abgeschirmt habe. Im Nachhinein betrachtet hätte er bis zur Klärung des Falles irgendwo in Sicherheit gebracht werden müssen. Aber ich hielt es nicht für notwendig.«
»Es war mein Fehler! Ich hätte Corde nicht aus den Augen lassen dürfen«, widersprach Trevisan.
Kirner wurde es zu bunt. »Ach wissen Sie was, zerfließen Sie weiter in Selbstmitleid. Ich gehe unterdessen einen Mörder fangen.« Er riss die Tür auf und
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