Die Wiege des Windes
gehen. Er brauchte nur eine halbe Stunde. Trevisan wartete geduldig, bis Dr. Jäger seine Eintragungen in einen kleinen Collegeblock vollendet hatte.
»Ich gehe davon aus, die Leiche kommt zu mir unters Messer?«
»Wenn Norden Ihr Revier ist …«, antwortete Trevisan.
»Na ja, gut«, nuschelte er. »Also. Ich kann keine Spuren von äußerer Gewalteinwirkung erkennen. Alle Glieder sind in Ordnung und die kleine Wunde am Hinterkopf zog er sich beim Sturz zu. Wenn Sie hinter diesem Todesfall ein Verbrechen vermuten, dann werden meine Feststellungen enttäuschend für Sie sein. Der Mann starb an einem Infarkt. Die Anzeichen sind ganz deutlich, obwohl er schon eine ganze Weile tot ist. Die Messungen ergeben einen groben Zeitrahmen von achtundvierzig bis sechzig Stunden.«
»Also am Samstag zwischen sechs und achtzehn Uhr«, murmelte Trevisan. »Dann geschah es, als die Kerle an Bord waren.«
Mittlerweile hatte sich die Dämmerung über den Hafen gelegt. Kleinschmidt und sein Team waren noch immer beschäftigt. Trevisan hatte veranlasst, dass ein Beerdigungsinstitut zum Hafen beordert wurde. Johannes Hagemann und Alex Uhlenbruch durchsuchten das Ruderhaus.
Kleinschmidt stand neben Trevisan auf der Molly und schaute zum Himmel. »Noch eine Viertelstunde und es ist dunkel.«
Trevisan zog den Mantelkragen höher. Feuchte Kälte schlich über das Wasser auf den Hafendamm zu. »Braucht ihr zusätzliches Licht?«
Kleinschmidt schüttelte den Kopf. »Wir sind in zehn Minuten fertig. Allerlei Fingerabdrücke, Faserspuren, alles Mögliche. Bis ich da durchgestiegen bin, vergehen ein paar Tage. Aber es deutet nichts darauf hin, dass das Schiff durchsucht wurde. Alles ist aufgeräumt. Die Becher stehen an ihrem Platz und das Unterdeck ist aufgefüllt mit Coladosen, Bier und Süßigkeiten.«
»Habt ihr ein Handy gefunden?«
Kleinschmidt schüttelte den Kopf.
»Sicher nicht?«
»Ich habe die Kleider und das Umfeld des Toten persönlich durchsucht«, antwortete Kleinschmidt fast ein wenig beleidigt. »Ein Handy habe ich nicht gefunden.«
»Verflucht …«
Als Kleinschmidt mit seinem Team abgerückt war, nahm Trevisan im fahlen Licht seiner Taschenlampe und der mageren Bootsbeleuchtung das Schiff selbst unter die Lupe. Drei Männer mussten doch Hinweise hinterlassen haben. Es sei denn, sie hatten genügend Zeit, sie zu beseitigen. Dosen und benutzte Becher konnten sie einfach über Bord werfen, Fingerabdrücke abwischen und entstandene Unordnung aufräumen.
»Wir haben was!«, rief Johannes Hagemann aus dem Unterdeck herauf.
Alex Uhlenbruch streckte seinen Kopf aus dem Niedergang. »Das hier war in der Bordapotheke deponiert.« Er präsentierte einen Schlüssel mit Anhänger. »Hätte ich die Dose mit dem Pulver gegen Insektenstiche nicht geöffnet, dann hätte ich ihn nicht gefunden. Corde hat offenbar einen Spind in der Seehundstation Norddeich.«
Trevisan schaute auf die Uhr. Es war kurz nach elf. »Kümmert euch bitte gleich darum.«
»Okay«, entgegnete Alex. »Ansonsten sind wir fertig.«
»Gut, machen wir die Lichter aus und verschwinden von hier.«
*
Als Trevisan nach Hause kam, war es bereits nach Mitternacht. Im Flur entledigte er sich seiner Schuhe und ging direkt ins Wohnzimmer. Seinen Mantel warf er achtlos über die Couch. Niedergeschlagen und erschöpft ließ er sich in seinem Sessel nieder und legte den Kopf zurück.
Corde war eines natürlichen Todes gestorben. Wo waren die anderen Männer geblieben? Hatten sie auf hoher See den Kutter verlassen, waren einfach umgestiegen auf ein anderes Schiff? Die Sigtuna! Natürlich, nur so konnte es gewesen sein.
Aber warum war Corde gestorben? Offenbar hatten sie ihn nicht angerührt. Mussten sie es überhaupt? Hatten sie ihn bereits so eingeschüchtert, dass er ihnen erzählte, was sie wissen wollten, hatte er ihnen verraten, wo sich Friederike van Deeren aufhielt? Oder ging es ihnen überhaupt nicht darum? Ging es ihnen nur um einen Gegenstand? Um einen Plan, eine Karte oder so etwas Ähnliches? Hatte Corde diesen ominösen Gegenstand selbst in Verwahrung? Auf dem Schiff vielleicht, so wie den Schlüssel, den Alex gefunden hatte? War er gestorben, weil seine Lebensuhr einfach abgelaufen war?
Trevisan schüttelte den Kopf. Ein wichtiger Umstand war, dass Cordes Handy fehlte. Corde selbst hatte gesagt, dass er nie ohne sein Handy das Haus verließ, weil es ein Teil seines Geschäftes war und sein Auskommen sicherte.
Auf dem Handy waren Telefonnummern
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