Die Wiege des Windes
die Mörder kaum aufhalten.
Onno Behrend hatte überlegt, woher die Kerle seine Telefonnummer haben könnten. Gut, der Anruf konnte tatsächlich ein Versehen irgendeines Versandhandels gewesen sein. Aber wenn diese Kerle dahintersteckten, dann war die Situation ein einziges Dilemma. Nur einer konnte Rikes Aufenthaltsort verraten haben: Hilko Corde. Und der hätte das freiwillig nicht getan. Onno kannte den alten Skipper seit Jahren. Hilko war ein gutherziger Mensch, etwas naiv, aber bestimmt nicht blöde und schon gar kein Verräter. Wenn die Mörder hinter dem Anruf steckten, dann war Hilko Corde in höchster Gefahr. Doch was sollte der Anruf? Wollte man wissen, ob jemand zu Hause war? Oder wollte man sich versichern, dass die Person, die Corde benannt hatte, tatsächlich existierte? In jedem Fall war dieser Anruf ein letztes Warnsignal und machte Onno deutlich, in welcher Gefahr Rike und er schwebten. Doch was war mit Hilko geschehen?
Würden sie schweigen und abwarten, hätten sie wohlmöglich den Tod des Freundes auf ihrem Gewissen. Onno Behrend zögerte. Sollte er Hilko einfach anrufen? Er könnte die Nummer des Anrufers unsichtbar machen, hatte der Verkäufer des modernen Telefons damals erklärt. Doch wie, zum Teufel? Die Bedienungsanleitung lag irgendwo auf dem Speicher, es käme der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen gleich.
»Ich glaube, uns bleibt keine andere Möglichkeit, als die Polizei zu rufen«, sagte Rike leise. »Hilko hat mir geholfen.
Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, dass ihm etwas zustößt.« Sie saß am Fenster und war den Tränen nah. Onno wusste, dass sie den toten Larsen vor Augen hatte.
»Ich gehe zu einer Telefonzelle und rufe ihn an«, antwortete er entschlossen. »Das ist unverfänglich. Niemand wird feststellen können, woher der Anruf kam.«
»Und wenn sie schon da draußen sind?« Rikes Kinn zuckte in Richtung des Fensters.
»Ich muss es riskieren«, antwortete Onno Behrend. »Ich werde das Haus verschließen und du bleibst mit der Pistole hier. Wenn jemand hier einzudringen versucht, dann rufst du die Polizei. Wenn ich komme, werde ich folgendermaßen klopfen …«Er trommelte mit der Faust einen einprägsamen Rhythmus an den Türrahmen. »Das heißt Onno im Takt des Morsealphabets.«
Rike wischte sich die Tränen auf der Wange ab.
»Wenn ich in vierzig Minuten nicht zurück bin, rufst du die Polizei.« Onno sich die Jacke über. Noch einmal klopfte er mit der Faust gegen die Tür. »Vergiss das Zeichen nicht.«
Noch bevor er die Tür geöffnet hatte, klingelte das Telefon. Onno und Rike schauten sich an.
Langsam löste sich Onnos Erstarrung. Er ging hinüber und blickte auf das Display. Die Nummer, die dort angezeigt wurde, kannte er. Onno atmete auf und nahm den Hörer ab. »Ja?«
»Onno?«, erklang die Frage einen guten Freundes.
Die Unterhaltung dauerte nicht lange. Onno blieb einsilbig und als der Bekannte fragte, ob er sich nicht wohl fühle, verwies Onno nur auf das Wetter. Dann bedankte er sich.
»Was ist los?« Rikes Frage erklang fast gleichzeitig mit dem Knacken des Telefons, als er auflegte.
»Ein Bekannter von der Schifffahrtsdirektion. Er sagt, dass ein schwedisches Schiff unter russischer Besatzung im Roten Sand Forschungsarbeiten durchführt. Mit Genehmigung der Nationalparkverwaltung. Klimaforscher, die die Wirkung des Wattenmeers aufs Wetter untersuchen oder so ähnlich.«
Rike schaute Onno entgeistert an. »Du hast jemandem von der Sache erzählt«, fuhr sie ihn an.
Onno war verlegen. »Ich wusste keinen anderen Weg mehr«, antwortete er kleinlaut. »Wir sind bislang keinen Schritt weitergekommen, deswegen habe ich einen alten Bekannten angerufen. Ich habe ihm einfach gesagt, dass ich ein Schiff dort gesehen habe. Von dir habe ich nichts erzählt, wirklich nicht.«
Rike schlug die Hände vors Gesicht. »Entschuldige, ich drehe noch total durch«, schluchzte sie.
Onno ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Zärtlich streichelte er ihr über den Rücken. Sie drückte sich an ihn wie ein kleines Kind, das Schutz vor der dunklen Nacht suchte.
*
Trevisan war nervös. Es war der erste Großeinsatz, den er als Leiter des Kommissariats führte. In Gedanken ging er noch einmal durch, ob er an alles gedacht hatte. Polizeiboote, Küstenschutz und Bundeswehr. Ein Polizeihubschrauber, die Seenotrettungskreuzer und die Flugboote der Bundeswehr vom Stützpunkt in Bremerhaven hielten Ausschau nach einem einsamen Kutter, der irgendwo da draußen,
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