Die wilde Gärtnerin - Roman
schmeckte das Szegediner Gulasch nicht. Das saure, mit Paprika versetzte Kraut hätte sie vielleicht noch geschafft, aber die Fleischstücke, an denen dicke Fettschwarten hingen und die von Fasern und Flachsen durchzogen waren, ekelten Hilde. Das Fleisch machte grausige Geräusche, wenn sie draufbiss. Das wabernde Fett wollte Hilde nicht in ihrer Mundhöhle spüren. Ihre Zähne nicht in Flachsen graben. Sie wusste, sie würde noch auf ihrem Stuhl sitzen, wenn Mutti und Vati schon längst fertig gegessen hatten. Beide würden im Wohnzimmer auf der Couch Radio hören oder Zeitung lesen, und sie würde noch immer auf ihren Teller starren. Hilde hätte bereits geweint, ihr Vater bereits seinen Wutanfall hinter sich. Irgendwann käme ihre Mutter und würde sie von dem Teller und dieser Tortur befreien. »Geh in dein Zimmer«, würde ihre Mutter sagen, Hilde sich an ihrem Vater vorbeischleichen. »Wehe, ich hör einen Mucks von dir«, würde er sagen, ohne von seiner Zeitung aufzuschauen. Was bedeutete, dass Hilde für diesen Tag seine Nerven bereits überstrapaziert hätte und er keine weiteren Störungen mehr dulden würde.
Anton schmeckte das Gulasch gut. Er hatte das Fleisch aus seiner Arbeit mitgebracht. Seine schwarzen Haare, die so widerspenstig wie die seines Vaters waren, hatte er mit Brillantine nach hinten gekämmt. Die breiten Schultern und Oberarme zeichneten sich unter dem weißen Hemd ab. Erna Cerny betrachtete ihren Mann. Auch nach zehn Jahren Ehe fand sie ihn attraktiv. Er war zwar eitel und betrieb viel Aufwand, um wie ein Filmstar auszusehen, aber an seinem Äußeren hatte sie nichts auszusetzen. Es war seine unkontrollierte Wut, die ihr zu schaffen machte. Sein Zorn, der, ausgelöst von Kleinigkeiten, von irgendetwas, das seinem Ideal, seiner Vorstellung von Perfektion zuwiderlief, losbrach.
»Ich sag dir, iss«, richtete er seine bedrohliche Stimme an Hilde. Sie ließ den Kopf gesenkt. Mit seiner Faust, die an körperliche Arbeit gewöhnt war, schlug er auf die Tischplatte. Das Geschirr und Hilde schreckten hoch. »Ich schau mir das nicht länger an, du verdirbst mir den Appetit!«
Hilde wagte nicht, von ihrem Teller aufzuschauen. Das Gulasch verschwamm vor ihren Augen. Rotz und Wasser liefen ihr aus der Nase. Sie traute sich nicht, mit ihrem Ärmel darüberzuwischen und schon gar nicht, hochzuziehen, denn das hasste ihr Vater. »Heul nicht, sondern iss!«, schrie er nochmals. Hilde nahm etwas Kraut auf die Gabel und schob es in ihren Mund. »Das Fleisch«, sagte Anton leiser, aber Hilde wusste, wenn sie seiner Aufforderung nicht nachkäme, würde er wieder laut werden. Sie spießte ein Stück Fleisch auf ihre Gabel. Es bestand zu gleichen Teilen aus Fasern und Fett. Hilde vermutete, dass ihr Vater, extra, um sie zu quälen, dieses ekelige Fleisch nachhause brachte. Sie wusste, dass es in der Fleischerei, wo er arbeitete, auch anderes gab. Faschiertes beispielsweise. Das mochte sie. Bei Fleischlaberln grauste es sie nie.
Hilde stopfte Gulasch in ihren Mund und kaute darauf herum. Ihr war unerklärlich, warum Erwachsene so viel Wert auf Essen legten. Ihre Mutter häufte immer eine viel zu große Portion auf Hildes Teller, und ihr Vater hatte keine andere Beschäftigung, als sie so lange damit zu schikanieren, bis alles aufgegessen war. »Warum muss ich überhaupt essen?«, fragte sich Hilde. Bei Torten, Schokolade und Eis machte es ja noch Sinn. Aber warum dieses ekelhafte Fleisch herunterwürgen? »Damit du groß und stark wirst«, hatte ihre Mutter gemeint. Hilde schaute zu ihrem Vater. Er war groß und stark. Wäre sie so wie er, sie würde nichts essen, was ihr nicht schmeckte. Der Bissen in ihrem Mund wurde sperriger. Sie schluckte das zerkaute Szegediner Gulasch hinunter, aber es verkeilte sich in ihrer Speiseröhre. Sie schluckte und schluckte, so lange, bis der Brocken in ihrem Magen landete. Dann schaute sie ihren Vater herausfordernd an.
»Na bitte, geht ja, du Prinzessin auf der Erbse«, sagte er und aß weiter. Hilde wusste, dass »Prinzessin« nicht nett gemeint war. Sie kannte das Märchen von ihrer Oma Amalia, die las es ihr oft vor. »Recht hat’s, die Prinzessin«, hatte ihre Oma gesagt, »warum soll’s unbequem liegen? Wer schlaft schon gern schlecht? Oba waßt, wos sie statt raunzen hätt’ tuan solln?« Hilde wusste es nicht. Den Mund halten? Auf dem Boden schlafen? »Sie hätt aufstehen und die Erbsen unter der Matratzn hervorholen sollen.« Die Enkelin gab ihrer Oma recht.
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