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Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einer hohen Welle
gezeichnet, und darunter stand: SEINE LETZTE TAUCHFAHRT .
    Trumper fragte
sich, wie Fehls Zunder in Stuttgart schwimmen und tauchen gelernt hatte. An
seinem Fenster im vierten Stock stellte sich Bogus vor, wie er jetzt mit einem
zweifachen Salto genau in der Mitte einer glänzenden Pfütze zwischen den
Straßenbahngleisen vor dem Hotel landen könnte.
    Bogus’ längste Träume handeln von Helden. Und so träumt er von
Merrill Overturf, wie der seine Subkutanspritze in einem kleinen Topf
sterilisiert und ein Reagenzglas mit Indikatorlösung und Urin erhitzt, um seine
Zuckerwerte zu überprüfen. In der riesigen amerikanischen Küche sieht Merrill
direkt zierlich aus; es ist die [283]  Küche
in Great Boar’s Head, in der Bogus Merrill noch niemals gesehen hat. Dr. Edmund
Trumper liest gerade Zeitung, und Bogus’ Mutter kocht Kaffee, während Merrill
mit einer Pipette Urin in die Testlösung träufelt, genau acht Tropfen.
    »Was gibt’s zum
Frühstück?« fragt Trumpers Vater.
    Merrill schaut
auf den Kurzzeitwecker am Herd. Als er klingelt, ist Dr. Trumpers Ei weich
gekocht, und Merrills Urin ist ebenfalls soweit.
    Merrill stellt
den Urin zum Abkühlen in ein hübsches Gewürzregal, während Trumpers Vater an
der heißen Eierschale herumfingert. Merrill schüttelt das Reagenzglas; Dr.
Edmund schlägt dem Ei mit einem Messer den Kopf ab. Merrill verkündet, sein
Zuckerwert sei hoch. »Mindestens zwei Prozent«, sagt er und fuchtelt mit der
trübroten Flüssigkeit herum. »Klares Blau wäre negativ…«
    Etwas zischt.
Es ist ein großer Mercedes-Bus unter Trumpers Fenster in Stuttgart, doch für
Bogus stammt das Geräusch von Merrill, der gerade seine Spritze aufzieht.
    Dann sitzen die
drei am Frühstückstisch. Als Bogus’ Mutter Kaffee einschenkt, hebt Merrill sein
Hemd hoch und zieht eine kleine Speckrolle aus seinem Bauch. Trumper nimmt den
Geruch von Alkohol und Kaffee wahr, als Merrill seinen Speck mit einem
Wattebausch abreibt, die Nadel wie einen Dartpfeil hineinjagt und sanft auf den
Kolben drückt.
    Noch ein
Zischen, diesmal lauter; Bogus dreht sich um und schlägt mit dem Kopf gegen die
Wand seines Zimmers im Hotel ›Fehls Zunder‹; einen Augenblick lang neigt sich
die Küche in Great Boar’s Head zur Seite und kippt aus dem Bett. Als er das
Krachen und ein drittes Zischen hört, wacht Trumper auf dem Fußboden auf, mit
der flüchtigen Vision, wie Merrill sich voll Luft pumpt.
    Jetzt schwebt
Merrill an der Decke von Trumpers seltsamem Hotelzimmer, und von irgendwoher
hört er die Stimme seines [284]  Vaters,
übertönt von den Bustüren, die draußen auf- und zugehen: »Das ist kein
typisches Symptom einer Insulinreaktion…«
    »Mein
Zuckerspiegel ist zu hoch!« kreischt Merrill und schwebt wie ein mit Helium
gefüllter Ballon an der Decke entlang zum Oberlicht über der Tür, wo Bogus das
kindliche Gesicht einer fremden Frau sieht, die durch eine der winzigen
Scheiben starrt. Tatsächlich liegt die Glasscheibe zersplittert am Boden, und
das verschreckte Zimmermädchen, das auf einer Leiter steht, entschuldigt sich
bei Trumper für die Störung; sie sei gerade dabei gewesen, das Fenster zu
putzen, als eine Scheibe herausfiel.
    Bogus lächelt;
er versteht ihr Deutsch nicht auf Anhieb, also muß das Zimmermädchen
weiterreden. »Sie ist einfach rausgefallen, als ich das Fenster geputzt hab«,
erklärt sie, dann sagt sie ihm, sie werde einen Besen holen.
    Trumper wickelt
sich das Bettlaken um; vorsichtig geht er zum Fenster und versucht
herauszufinden, woher das echte Zischen kam. Ob nun der nagelneue Mercedes-Bus
so einladend wirkt oder ob ihm klar wird, wieviel Geld er bei sich hat,
jedenfalls wird er vom Konsumrausch überwältigt und fährt mit einem solchen Bus
nach München – schläfrig sitzt er oben in dem doppelstöckigen Reisebus und
gondelt durch Bayern; er träumt vage von einem Teufelskreis, in den Merrill
gerät, weil er seinen Diabetes nachlässig behandelt. Merrill setzt sich einen
Schuß Insulin, weil er sieht, daß sich ein Zuckerausfall ankündigt; Merrill
erleidet in einer Wiener Straßenbahn eine Insulinreaktion, fuchtelt mit den
Hundemarken um seinen Hals so lange herum, bis der Schaffner, der schon drauf
und dran ist, diesen irren Betrunkenen hinauszuwerfen, die zweisprachige
Nachricht auf den Plaketten liest:
     
    Ich bin nicht betrunken!
    I am not drunk!
     
    [285]  Ich bin zuckerkrank!
    I have diabetes!
     
    Was Sie sehen, ist eine Insulinreaktion!
    What

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