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Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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die neue Schreibmaschine in dem Agentenkoffer durch den Esterhazy-Park, wo
er sich zum Pinkeln hinter eine große Hecke begab. Sein Rascheln in der Hecke
alarmierte ein vorbeigehendes Pärchen. Sie schaute erschreckt drein: Da wird
grad ein Mädchen vergewaltigt, oder Schlimmeres! Seine Reaktion war ein
höhnisches Grinsen: ein Pärchen, das keinen besseren Platz findet. Trumper kam
aus der Hecke heraus, allein und sehr würdevoll, und schleppte den Koffer, in
dem eine Leiche verstaut sein mochte, weiter. Oder war er ein
Fallschirmspringer, der sich eben schnell umgezogen hatte und sich jetzt mit
der Bombe im Koffer auf den Weg zum österreichischen Parlament machte?
    Das Pärchen
lief vor seinem seltsamen Aufzug davon, doch Bogus Trumper fühlte sich gut. Er
hatte das Gefühl, genau richtig auszusehen für eine Jagd nach Merrill Overturf
durch die Straßen von Wien.
    [288]  Er
fuhr mit einer anderen Straßenbahn weiter in die Innenstadt, den Opernring
entlang und stieg an der Kärntner Straße aus, dem nächtlichen
Vergnügungsviertel der Stadt, direkt im Zentrum. Wenn ich Merrill Overturf wäre
und noch in Wien, wowürde
ich mich dann an einem Samstagabend im Dezember aufhalten?
    Trumper geht
schnell durch die kleinen Gäßchen um den Neuen Markt, sucht das ›Hawelka‹, das
alte Bolschewiken-Kaffeehaus, in dem sich immer noch vorwiegend Intellektuelle,
Studenten und Kartenverkäufer aus der nahen Oper aufhalten. Das Kaffeehaus
zeigt ihm ebenso die kalte Schulter wie damals – die gleichen hageren, haarigen
Männer, die gleichen großgewachsenen, sinnlichen Mädchen.
    Bogus nickt
einem Möchtegernpropheten am Tisch bei der Tür zu und denkt: Vor Jahren gab’s
einen, der war so wie du, ganz in Schwarz gekleidet, nur hatte er einen roten
Bart. Und Overturf kannte ihn, glaub ich…
    Trumper fragt
den Typ: »Merrill Overturf?«
    Der Bart des
Mannes scheint zu gefrieren; seine Augen quellen hervor, als kämen ihm alle
Codewörter, die er mal gelernt hatte, gleichzeitig in den Sinn.
    »Kennen Sie
Merrill Overturf?« fragt Bogus die Frau, die neben dem gefrorenen Bart sitzt.
Doch sie zuckt die Schultern, als wolle sie damit sagen, und wenn schon, jetzt
spielt das keine Rolle mehr.
    Eine andere
Frau, die einen Tisch weiter sitzt, sagt: »Ja, ich glaub, er ist jetzt beim
Film.«
    Merrill beim Film?
    »Film?« fragt
Bogus. »Hier, meinen Sie? Hier beim Film?«
    »Sehen Sie hier
vielleicht eine Kamera?« fragt der Typ mit dem Bart, und ein Kellner, der
gerade vorbeigeht, zuckt bei dem Wort Kamera zusammen.
    »Nein, ich
meine, hier in Wien«, sagt Trumper.
    »Ich weiß
nicht«, sagt die Frau. »Beim Film, das ist alles, was ich gehört hab.«
    [289]  »Er
hat einen alten Zorn-Witwer gefahren«, sagt Trumper, zu niemand Bestimmtem, er
ist für jeden Hinweis dankbar.
    »Ja? Einen Zorn-Witwer!«
sagt ein Mann mit einer wuchtigen Brille. »Baujahr 53? Oder 54?«
    »Ja! Einen
54er!« schreit Bogus und dreht sich zu dem Mann um. »Der Schalthebel rutschte
immer raus, und im Boden waren Löcher, man konnte sehen, wie sich die Straße
unter einem bewegte. Die Polster waren zerschlissen…«
    Er hält inne,
bemerkt, wie mehrere ›Hawelka‹Gäste seine Erregung beobachten. »Ja, und wo ist
er jetzt?« fragt Trumper den Mann, der sich mit Zorn-Witwern auskennt.
    »Ich kenne das Auto ,
weiter nichts«, gibt der zurück.
    »Aber Sie haben ihn tatsächlich gesehen…« Bogus dreht sich wieder zu der Frau um.
    »Ja, aber das
ist schon länger her«, antwortet die, und ihr Begleiter schaut Bogus ärgerlich
an.
    »Wann haben Sie
ihn das letzte Mal gesehen?« fragt Bogus weiter.
    »Hören Sie«,
sagt sie ärgerlich. »Ich weiß nichts über ihn. Ich kann mich an ihn erinnern,
das ist alles…« Ihre Stimme läßt das Gemurmel im Kaffeehaus verstummen.
    Trumper starrt
sie enttäuscht an; vielleicht beginnt er zu schwanken oder rollt mit den Augen,
denn ein großbusiges Mädchen mit langer Mähne und neongrünem Lidschatten packt
ihn am Arm und zieht ihn an ihren Tisch herab.
    Sie fragt ihn:
»Haben Sie Probleme?« Er versucht, von ihr wegzukommen, doch sie redet ihm
freundlich zu. »Nein, im Ernst, was für Probleme haben Sie denn?« Als er immer
noch nicht antwortet, versucht sie es auf englisch, obwohl er die ganze Zeit
deutsch gesprochen hat. »Sind Sie in Schwierigkeiten?« fragt sie ihn.
    »Brauchen Sie
Hilfe?« fragt sie weiter, diesmal wieder auf deutsch.
    [290]  Jetzt
steht ein Kellner neben ihnen, wippt nervös auf und ab.

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