Die wilde Jagd - Roman
geringsten Zweifel. Selsen bittet nur um die Gelegenheit, dies beweisen zu dürfen.«
In dem unangenehmen Schweigen, das daraufhin einsetzte, erhob sich Ceinan wieder.
»Übersehen wir nicht etwas, meine Brüder?«, fragte er. »Es gibt noch eine andere moralische Frage, die erörtert werden muss. Wenn Frauen neben Männern in größter räumlicher Nähe dienen, macht das beide Geschlechter für die Versuchungen des Fleisches empfänglich. Wie soll eine Frau unter diesen Umständen ihren Anstand bewahren? Und wie soll den Männern das gelingen?«
Ja, wie? Wenn manch ein Ritter schon versagt und seine Eide bricht, wenn all seine Kameraden Männer sind, wie soll es dann noch Hoffnung für ihn geben, wenn er Schulter an Schulter mit einer Frau kämpft?
»Das ist, glaube ich, eine Frage, die wir in einer offenen Debatte nicht beantworten können«, sagte Ansel. »Die Antwort darauf finden wir nur auf dem Feld und im Vertrauen auf unseren Glauben, der uns stark genug macht.«
Wieder ertönte ein drängendes Fingerschnippen. Selsen hielt das Blatt Papier hoch, damit alle es sehen konnten. In Blockbuchstaben hatte sie so heftig geschrieben, dass die Feder zerbrochen und die Tinte verlaufen war: ICH WERDE NICHT VERSAGEN . Als Ceinan die Brauen hob, warf sie ihm einen finsteren Blick zu und hielt das Blatt wie einen Schild vor sich.
»Anscheinend muss ich mich geschlagen geben, meine Dame, und das Feld räumen«, sagte der Dremenier. Er hob die Hände und neigte den Kopf, doch Ansel war das Zucken seiner Lippen nicht entgangen, da er ein Lächeln zu verbergen suchte. »Aber meine Einwände bleiben bestehen. Ich sehe keine Notwendigkeit, sie umzuformulieren.«
Er setzte sich, und Ansel nickte.
»Eure Einwände sind aufgenommen und niedergeschrieben worden, Ältester. Gibt es sonst noch irgendwelche Anmerkungen, bevor wir zur Abstimmung schreiten? Eadwyn? Festan?« Festan verschränkte die fleischigen Arme vor der Brust und schüttelte grimmig den Kopf. Selsen kehrte in den Zeugenstand zurück, machte das Zeichen des Schutzes über ihrer Brust und schloss die Augen. »Dann sei es so.«
Er klopfte mit seinem Stab auf den Boden und bat um die Abstimmung.
2 7
Dunkelheit. Zart, still, erstickend. Sie hüllte Teia ein wie die Schwärze des Mutterleibes, in der ein Albtraum darauf wartete, geboren zu werden. Sie hörte seinen Herzschlag und spürte die Gestalt seiner Träume. Sie fühlte, wie er sich dehnte und wuchs, und kannte den Namen seiner Mutter. Sie schrie.
Hände packten ihre Schultern, und sie kämpfte mit ihren Decken.
»Ruhig, ganz ruhig, Teia«, sagte Neve. »Es ist alles gut. Alles ist gut.«
»Sie kommt«, flüsterte Teia. Zitternd holte sie Luft. »Ich habe es gespürt. Sie kommt!«
Neve runzelte die Stirn. Das steingraue Licht, das in die Höhle drang, war nicht freundlich zu ihrem Gesicht, machte es hart und vertiefte die Linien, die sich in den Jahren der Verbannung hineingegraben hatten. Sie waren wie die Rinnen, die das Wasser in den Stein grub.
»Wer kommt? Du hattest einen schlechten Traum, das ist alles. Er ist jetzt vorbei. Alles wird gut, bestimmt.«
Die eisigen Hände der Vorahnung umklammerten Teias Herz, und sie zitterte. Kalt. Ihr war so kalt angesichts des Kommenden. »Nein, das wird es nicht. Nichts wird je wieder gut sein.«
»Teia?«
»Sie ist schon fast hier, Neve.«
»Wer?«
»Die dunkle Göttin.«
O Macha, schütze mich vor dem Sturm .
»Ich habe noch nie eine so verängstigte Frau gesehen, Baer.«
Neve stand neben ihm auf dem Felsvorsprung und schlang die Arme gegen die Kälte um sich, während die knochenweißen Berge vor dem heller werdenden Himmel hervortraten. Ihr Mann sagte nichts, aber seine Augen waren unablässig in Bewegung und suchten den Schnee nach Spuren möglicher Verfolger ab.
»Sie hat immer wieder gesagt, dass sie kommt und nichts jemals wieder gut sein wird.«
Eine der alten Gottheiten. Das Mädchen behauptete, sie gesehen zu haben. Stimmte es wirklich, dass die dunkle Göttin von der Sprecherin der Crainnh beschworen worden war? Das Mädchen hatte keinen Grund zu lügen. Was Teia vorhatte, war so kühn, dass nur die Wahrheit sie dazu treiben konnte – oder das, was sie für die Wahrheit hielt. Er war sich noch nicht im Klaren darüber, ob es tatsächlich die Wahrheit war oder nicht. Sobald er zu einem Ergebnis gekommen war, würde er entscheiden müssen, was zu tun war. Zwei Dutzend Seelen standen unter seiner Obhut, und der Winter bedrängte sie.
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