Die wilde Jagd - Roman
ob eine Frau von hohem oder niedrigem Geblüt war; sie verkörperte die Schöpfungsmacht der Göttin, und es stellte eine große Sünde dar, diese Verkörperung durch Gewalt oder Böswilligkeit zu entweihen. Die wesentliche Aufgabe der Ritterschaft, von denen alle anderen abhingen, bestand in der Verteidigung dessen, was richtig war – ohne Ansehen des Aufwandes.
Jemand muss es sagen; da kann ich es auch tun . »Vergewaltigung.«
Festan schien peinlich berührt zu sein; er zupfte an seinen Ärmeln herum und konnte Selsen nicht ins Gesicht sehen. Dem Rest der Kurie erging es kaum besser – mit Ausnahme derjenigen, die es gewohnt waren, ihre Gefühle hinter einer Maske der Leidenschaftslosigkeit zu verbergen. Einige wurden so rot wie ihre Roben.
»Mit einem Wort, ja«, erwiderte Festan. »Das ist eine Gefahr, der sich der Rest von uns nicht stellen muss.«
Du wärest überrascht, Festan. Das Sankt Benets-Tag-Massaker im Tochterhaus von El Maqqam hat uns gezeigt, dass die Vergewaltigung von Frauen nicht die schrecklichste Sünde ist, zu der sich der Kult herablässt .
Ein Fingerschnippen lenkte seine Aufmerksamkeit auf Selsen.
Als sie den Blickkontakt zu ihm hergestellt hatte, führte sie mit ihrer gesunden Hand Schreibbewegungen aus.
»Du möchtest dich dazu äußern?« Mit flehentlichem Blick nickte sie. »Falls der Rat keine Einwände hat?«
Niemand brachte Bedenken vor. Selsen trat aus dem Zeugenstand und eilte zum Tisch des Bruders Schreiber. Sie nahm eine seiner Ersatzfedern sowie ein Blatt Papier und kritzelte einige Zeilen darauf, dann gab sie das Blatt dem Schreiber zurück, dessen Blicke unsicher von dem Mädchen in der Novizenrobe zum Präzeptor und zurück glitten.
»Bitte lest die Stellungnahme der Zeugin vor, Bruder«, sagte Ansel.
»›Ich bitte nur um das Recht, meinen Glauben nach meinen besten Möglichkeiten zu verteidigen. Wenn ich mich vor den Konsequenzen fürchten würde, hätte ich nicht um dieses Recht gebeten. Es ist mein großer Lebenswunsch, Ritter zu werden. Wenn es der Wille der Göttin ist, dass ich in ihren Diensten verletzt werde oder sterbe, dann soll ihr Wille geschehen.‹«
Der Schreiber legte das Blatt auf den Tisch und starrte es an, als ob es eine Natter wäre, die ihn gleich beißen würde.
»Wenn eine Frau der Göttin zu dienen wünscht, kann sie es doch tun, indem sie die heiligen Weihen erhält«, warf der Älteste Eadwyn ein. Einige andere drückten ihre Zustimmung aus. »Es besteht für sie nicht die Notwendigkeit, eine Rüstung anzuziehen und Schläge mit dem Schwert auszuteilen.«
»Warum sollte sie das nicht dürfen, wenn sie es will?« Alle Augen richteten sich auf den neuen Sprecher. Selenas, der drahtige syfrische Schwertmeister, erhob sich. »Wenn sie die Bürde der Ritterschaft tragen will, ist das ihre eigene Wahl. Oder treffen wir inzwischen die Entscheidungen der Frauen für sie und sagen ihnen, was sie zu ihrem eigenen Besten tun oder lassen sollen? Ich glaube, unsere Göttin würde eine solche Anmaßung von unserer Seite nicht sehr gnädig aufnehmen.«
Ein oder zwei Laute des Entsetzens darüber, dass Selenas sich erdreistete, für die Göttin zu sprechen, erklangen aus den Reihen der Versammelten.
»Es ist die Pflicht eines Mannes, und zumal eines Ritters, eine Frau zu beschützen«, sagte Eadwyn unter allgemeiner Zustimmung und setzte sich wieder.
Selenas hielt den Kopf schräg. »Und was ist, wenn sie unseren Schutz nicht will? Was ist, wenn sie sich selbst und auch jeden anderen schützen kann, der es nötig hat? Ich habe Selsen im Schwertkampf gegenübergestanden, meine Herren, und ich kann Euch versichern, dass die Person, die dabei des Schutzes bedurfte, nicht diese Dame war.«
Er macht eine elegante Verneigung, die rechte Hand auf dem Herzen. Verblüfft gab Selsen das Kompliment zurück.
Eadwyn erhob sich wieder. »Sicherlich begreift Ihr, dass diese Frau die notwendige Aggression vermissen lässt, die dazu nötig ist, einen Feind im Zweikampf zu besiegen. Sie mag zwar äußerst geschickt im Umgang mit der Waffe sein, aber ist sie auch hart genug, einen Angriff zu führen, wenn sie damit ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt? Wird sie vielleicht ohnmächtig, wenn Blut oder Schlimmeres ihr ins Gesicht spritzt?«
»Ihr habt offenbar nie einen Fuß in den Stall gesetzt, wenn eine Stute fohlt«, sagte der Pferdemeister harsch.
»Allerdings«, meinte Ansel. »Frauen haben das Herz eines Löwen, Ältester Eadwyn, daran hege ich nicht den
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