Die wilde Jagd - Roman
stand bereits ein anderer Ältester auf und sprach die Ratsversammlung an.
»Der Älteste Jago hat es zu Anfang seiner Rede klar und gut ausgedrückt«, sagte Ceinan. »Die Eigenschaften, die wir bei den Frauen am meisten schätzen und die zu verteidigen wir geschworen haben, sind dieselben, die sie als Soldaten der Göttin ungeeignet machen. Sie sind Ernährerinnen, keine Krieger. Sie bringen aus ihrem Leib neues Leben hervor. Sicherlich sollten wir nicht von ihnen verlangen, Leben zu nehmen?«
Seine Worte wurden mit Nicken und beipflichtendem Gemurmel bedacht. Selsen stand unruhig im Zeugenstand; ihr linker Arm war vor die Brust gebunden. Ihr Gesicht war angespannt vor Zorn. Sie versuchte ein Zeichen zu machen, musste aber aufgeben. Die Diebessprache war mit nur einer einsetzbaren Hand unmöglich anzuwenden. Sie sah Ansel flehentlich an. Seine Finger bewegten sich verstohlen.
Ich verstehe .
»Verzeiht mir, wenn ich für Selsen spreche«, sagte er, »aber wir verlangen nichts von ihr. Sie ist es, die etwas von uns verlangt.« Selsen nickte heftig.
»Bei allem Respekt vor ihr«, sagte Ceinan und verneigte sich nur so knapp vor Selsen, wie es gerade noch höflich war, »muss ich widersprechen. Ruft zur Abstimmung auf, Präzeptor. In dieser Angelegenheit soll jeder Mann seinem Gewissen folgen.« Mit diesen Worten ließ er sich anmutig auf seinem Sitz nieder.
Festan erinnerte sich, dass es eigentlich seine Redezeit war, und er schüttelte sich wie ein großer Hund, der gerade aus dem Wasser kam. »Eine Abstimmung ist sinnlos«, brummte er. »Selbst wenn wir sie zum Ritter schlagen wollten, wäre es unmöglich. Ehrlich, Präzeptor, ich verstehe nicht, wie Ihr diese Narrheit weitertreiben wollt, wo sie doch so offensichtlich zu nichts führen kann.«
»Selsen hat den Waffengang mit hohen Ehren abgeschlossen, und sie ist einer der besten Novizen, die unser Orden je hervorgebracht hat. Was muss sie denn noch tun, um ihren Wert zu beweisen?« Ansel beugte sich ein wenig vor und verlieh seinen Worten auf diese Weise mehr Nachdruck. »Festan, Ihr wart ebenfalls anwesend und habt im Pavillon vor mir gesessen. Ihr habt die Wettkämpfe gesehen und die Entscheidungen der Richter gehört, genau wie ich.«
»Ja, aber …«
»Aber was?« Ansel versuchte, seinen Zorn im Zaum zu halten, doch seine Geduld war schon fast aufgebraucht und daher kein guter Zuchtmeister mehr. »Seitdem ist lediglich herausgefunden worden, dass der Novize, den Ihr beobachtet habt, ein anderes Geschlecht hat. Das schmälert ihre Leistungen nicht. Warum also soll sie ihre Belohnung nicht erhalten?«
Festan warf die Hände in die Luft, als wollte er den Himmel bitten, etwas zu unternehmen. »Die Ordensordnung verbietet es! Eine Frau kann nicht Ritter werden!«
»Und welcher Artikel soll das sein, Ältester?«, warf Danilar ein.
Der Göttin sei Dank! Danilar stand zu seinem Wort, welche Bedenken er in dieser Sache auch haben mochte!
Diese Unterbrechung brachte Festan aus der Fassung. »Kaplan?«
»Welcher Artikel der Ordensordnung besagt, dass Frauen von der Ritterwürde ausgeschlossen sind? Verzeiht mir; ich werde allmählich alt, und mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher.« Es ertönte ein verächtliches Schnauben, doch diesmal wandelte es sich rasch zu einem Kichern. Ansel glaubte zu wissen, wer das war, aber er wagte es nicht, die Reihen der Ältesten entlangzuschauen. Außerdem war das Gesicht, das Festan machte, sehr unterhaltsam, denn er schien kurz vor einem Schlaganfall zu stehen.
»Also, ich erinnere mich nicht genau, aber …«
»Der Älteste Morten dort drüben hat ein Exemplar der Ordensordnung«, sagte Danilar und deutete auf den Ältesten, der mit seinem gleichaltrigen Bruder Tercel an einem der Schreibertische saß und ein ledergebundenes Buch vor sich liegen hatte. »Vielleicht könnte er einmal nachsehen?«
Mortens piepsige Stimme drang nicht über den plötzlichen Aufruhr aus Zustimmung und Ablehnung. Ansel klopfte mit seinem Stab auf den Boden, und der weißhaarige Älteste versuchte es erneut.
»Ich muss nicht erst nachsehen, meine Herren – und meine Dame.« Er drehte sich zu Selsen um und verneigte sich kurz vor ihr. »Nirgendwo in den Artikeln gibt es einen Hinweis auf das Geschlecht des Ritters mit Ausnahme des Personalpronomens ›er‹, das sich aber, wie jeder Student weiß, nur auf den Ritter als Person ohne Ansehen des Geschlechts bezieht; dem männlichen Begriff ›Ritter‹ steht keine weibliche
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