Die wilde Jagd - Roman
sie in Ruhe, Ytha. Solltest du darauf beharren, dass sie auf die Probe gestellt wird, übergebe ich sie dir, aber erst einmal lässt du sie mir. Der Rest der Clans wird morgen hier sein; ich habe auch so genug zu tun und will nicht während der ganzen Versammlung zu einem kalten Herd und einem leeren Bett zurückkehren müssen. Außerdem«, fügte er hinzu, »blutet mein Abendessen gerade über deinen Gewändern aus.«
Ytha zuckte mit einem Laut der Abscheu von dem dunklen Blut zurück, das auf ihren Mantel perlte. Sie warf Teia einen bösen Blick zu, als ob das ihre Schuld sei, und wandte sich dann mit eiskalter Miene an Drwyn.
»Ich warte auf den Tag, Häuptling. Sie hätte schon vor langer Zeit zu mir geschickt werden sollen.«
Steif neigte Ytha das Haupt und stapfte davon.
Drwyn trat in den Lichtkreis des Feuers, und Teias Knie wurden weich. Mit einem Seufzer der Erleichterung sank sie ihm entgegen und war dankbar für seine grobe Umarmung, auch wenn er den Grund dafür nie erfahren würde.
»Hat sie dir Angst gemacht?«, fragte er in dem unbeholfenen Versuch, sie zu trösten. Teia nickte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Du brauchst keine Angst zu haben. Die Sprecherin will dir nichts Böses antun.«
Nur so viel Böses, wie eine Felsenkatze einem Rehkitz antun will . »Sie war in meinem Kopf. Es hat wehgetan.«
»Sie hat nur überprüfen wollen, ob du die Gabe besitzt«, erklärte Drwyn. »Vielleicht solltest du froh sein, dass du sie nicht hast. Und was ist mit dem Abendessen?«
Damit war sein Versuch, sie zu trösten, beendet.
Teia machte sich an die Arbeit. Sie rupfte die Vögel und nahm sie aus, rieb ihre Haut mit Honig und Salz ein und briet sie. Währenddessen dachte sie über das nach, was sie im Wasser gesehen hatte. Es hatte ihre früheren Visionen nicht erklärt, sondern bloß neue Fragen heraufbeschworen, die sie nicht beantworten konnte.
Wenn sie bloß mehr Zeit gehabt hätte! Sie war sich sicher, dass weitere Visionen ihr neue Bilder gezeigt hätten, mit deren Hilfe sie ihre eigene Zukunft hätte erraten können. Wenn ihr diese Visionen im Traum gekommen wären, hätte sie sich mit der Bitte um eine Deutung an die Sprecherin wenden können, doch es hätte die Gefahr bestanden, dass Ytha sie als Hinweis auf Teias Gabe verstanden hätte, und dann hätte Teia ihr alles zeigen müssen, was sie bisher gesehen hatte – den Jungen mit dem Halsring des Häuptlings wie auch alles andere.
Als in jener Nacht Drwyn gegessen und sie genommen hatte und danach den Schlaf des Gesättigten schlief, dachte sie daran wegzulaufen. Die Vorstellung entmutigte sie: Ihre Familie und alles zu verlassen, was sie je gekannt hatte, um es gegen eine unsichere Zukunft einzutauschen. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen und wie sie allein den Winter überleben sollte. Andererseits war sie von der schrecklichen Gewissheit erfüllt, dass sie nicht mehr lange bei den Crainnh bleiben konnte.
6
Nach einer unruhigen Nacht voller bruchstückhafter Träume erwachte Teia am ersten Tag der Versammlung und fühlte sich steif wie an der Sonne getrocknetes Elchfleisch. Drwyn sah kaum besser aus. Er schlang zum Frühstück etwas Brot herunter und lief dann mit einem Humpen Bier in der Hand durch das Zelt, während sie das Waschwasser erhitzte.
Danach kleidete er sich mit ungewöhnlicher Sorgfalt in seine beste Stoffhose und seinen Umhang, den er an der Schulter mit einer großen Goldspange befestigte. Sein Bart war gebürstet, das Haar aus dem Gesicht gestrichen, und sogar der Speer, der seinen Rang anzeigte, war poliert und glänzte. Er sah beinahe gut aus, wenn er nicht andauernd auf seinem Schnurrbart herumgekaut hätte und wie ein Hund auf und ab gelaufen wäre.
Teia spürte, dass er sie beim geringsten Anlass schlagen würde. Daher nahm sie einen Armvoll sauberer Kleidung und zog sich in den Schlafbereich zurück. Teia legte sie gerade in die Truhe, nachdem sie sie zusammengefaltet hatte, als sie hörte, wie jemand von draußen das Zelt betrat.
»Ausgezeichnet«, sagte Ytha. »Das sollte sie beeindrucken. Gut gemacht.«
Teia erstarrte.
»Sind die anderen so weit?«, fragte Drwyn.
»Fast. Alle Clans sind hier. Sie werden in weniger als einer Stunde versammelt sein. Weißt du noch, was ich dir gesagt habe?«
»Ja, Ytha. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich bin die Sprecherin der Crainnh. Es ist meine Aufgabe, mir Sorgen zu machen«, sagte Ytha kühl. »Du musst den richtigen Eindruck auf die anderen
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