Die wilde Jagd - Roman
Häuptlinge machen. Wenn sie dich ernst nehmen sollen, musst du der wahre Sohn deines Vaters sein – und noch mehr als das.«
Teia ließ das Hemd, das sie gerade in der Hand hielt, fallen. Sie raffte den Rock und rutschte so leise wie möglich über den Boden an den Vorhang heran. Sie wagte kaum zu atmen und spähte durch ein Mottenloch im Stoff. Ytha trug ein dunkelblaues Wollkleid unter ihrem Polarfuchspelzmantel, das durch einen goldenen Gürtel aus miteinander verbundenen Halbmonden um die Hüfte gehalten wurde. Ein weiterer Halbmond hielt ihr Haar zusammen.
»Dies ist ein wichtiger Tag, Drwyn. Wenn du dich heute gut schlägst, wird dir nichts mehr im Wege stehen. Innerhalb eines Jahres wirst du der Häuptling der Häuptlinge sein, und der ganze Süden wird dir gehören.«
»Darauf freue ich mich schon.«
Teia erkannte die Gier in seiner Stimme. Es war das gleiche Knurren, das sie stets in der Dunkelheit hörte, wenn er ihr sagte, wie sie ihn zu befriedigen habe. Er hielt ihr den Rücken zugewandt, aber sie konnte sich seinen Gesichtsausdruck gut vorstellen und erzitterte.
Der Häuptling der Häuptlinge! So etwas hatte es seit tausend Jahren nicht mehr gegeben, seit die Clans nach Norden getrieben worden waren. Diese Vorstellung wirbelte durch ihre Gedanken, eröffnete eine Fülle von Möglichkeiten. Und der Süden? Hatte Drwyn etwa vor, das Reich herauszufordern? Unvorstellbar. Nein, das war lächerlich. Es würde sie alle vernichten. Die Eisenmenschen würden sie besiegen. Ob er wirklich mit diesem Gedanken spielte?
»Ah, Drwyn, ein Schritt nach dem anderen«, sagte Ytha. »Wenn wir die Jagd zu schnell angehen, wird das Wild fliehen, und wir können dieselbe Falle nicht zweimal aufstellen.«
»Du sprichst in Rätseln, Ytha! Sag, was du denkst.«
Die Sprecherin entgegnete in schärferem Tonfall: »Ich denke, dass wir unserem Ziel näher sind als je zuvor, aber wir müssen uns in Geduld üben. Wenn wir es zu direkt angehen, könnten wir alles ruinieren. Komm jetzt, die Häuptlinge warten bestimmt schon.«
Noch lange nachdem sie das Zelt verlassen hatten, saß Teia wie angewurzelt da. Sie konnte kaum glauben, was sie soeben gehört hatte. Drwyn mochte vieles sein, doch er war nicht verrückt. Er würde nicht über so etwas nachdenken, wenn er nicht der Meinung wäre, damit durchkommen zu können. So viel hatte sie in den letzten Wochen gelernt. Was würden die anderen Häuptlinge dazu sagen? Ohne ihre Unterstützung konnte Drwyn schließlich nichts tun. Das brachte sie auf eine Idee. Rasch beendete sie ihre Arbeit.
Von den Felsen am Rande der Senke aus hatte sie einen guten Blick auf den Markt unter ihr. Inzwischen war kaum mehr eine Handbreit Gras zu sehen. Die Zelte drängten sich aneinander, rivalisierende Clans hausten in unmittelbarer Nachbarschaft und hatten vorübergehend alle Feindseligkeiten eingestellt. Das war ein Teil des Clangesetzes, das von allen akzeptiert wurde: Während der vier Tage der Versammlung sowie drei Tage davor und danach ruhten alle Meinungsverschiedenheiten, und sogar Blutsfehden waren ausgesetzt. Die Versammlung war der letzte große Markt vor dem Winter, die letzte Gelegenheit der Clans, zu handeln, Neuigkeiten auszutauschen und neue Frauen zu finden, bevor Eis und Sturm vom Nordmeer herbeikamen und sie alle in ihren Winterquartieren in den Bergen einpferchten.
Rauch lag dick in der Luft, und das ganze Tal hallte wider vom Geschrei der Kleinkinder, dem Bellen der Hunde, dem Blöken des Nutzviehs und dem Geplapper der Menschen. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie das Zeichen eines jeden Clans erkennen, das an einer Standarte vor dem Zelt des jeweiligen Häuptlings hing. Nicht weit von diesen Standarten entfernt stand jeweils ein anderes Zelt, das etwas kleiner, aber nicht weniger vornehm war und der jeweiligen Sprecherin gehörte, davor ein Bronzebild, welches das Totemtier des Clans darstellte, mit Feder, Fellen und Knochenamuletten geschmückt, die im Wind leise gegeneinanderklirrten.
Teia zählte sie. Ja, alle Sprecherinnen schienen anwesend zu sein. Einschließlich der Schülerinnen befanden sich mindestens fünfundzwanzig, vielleicht sogar dreißig oder noch mehr Frauen mit der Gabe in diesem Tal. Vermutlich waren es noch viel mehr, wenn sie all jene Frauen einrechnete, deren Gabe noch nicht entdeckt worden war. In diesem Wirrwarr sollte eine mehr oder weniger nicht auffallen.
Sie kletterte den Hang hinunter und suchte nach einer abgelegenen Quelle, die
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