Die wilde Jagd - Roman
innerste Kraft des Lebens, und ihr Sog war unwiderstehlich. Wie von selbst machten Teias Füße ein paar zögerliche Schritte auf den Ort der Beschwörung zu.
Plötzlich überfiel Teia die Angst. Sie griff nach der Musik in ihrem Innern und hoffte, sich von dem Zwang frei machen zu können. Doch stattdessen wurde sie wie von einer wirbelnden Strömung erfasst und davongetragen. Es war stärker als alles, was sie je erlebt hatte.
Bilder erfüllten ihren Kopf: Ytha, blutig bis zu den Ellbogen, warf das Herz des Lammes in die Kohlenpfanne, wo es rauchte und schwarz wurde. Ytha, wie sie die Finger in die Schale tauchte und die Stirn einer jeden Sprecherin und eines jeden Häuptlings mit Blut zeichnete. Der Gesang wurde lauter; es war die rhythmische Wiederholung eines einzigen Verses, während Ytha laut die Beschwörung anstimmte. Der aufsteigende Rauch aus der Kohlenpfanne formte sich zu seltsamen Gestalten, an denen weder die Hitze noch der Wind Anteil hatten. Funken durchtanzten sie, zuerst weiß, dann gelb und schließlich von tiefstem Rot, und es bildete sich eine Wolke, die immer dichter und größer wurde.
Der Himmel schien sich herabzusenken und war von einem so tiefen Grau, dass er beinahe blau wirkte. Plötzlich erstarb der Wind. Die Kinder in Teias Nähe verstummten, und die Mütter sahen sich ängstlich um, bevor sie ihre Kleinen in die Zelte scheuchten. Die Männer tauschten argwöhnische Blicke, legten ihre Arbeit nieder und gingen zu ihren Familien. Die Pferde auf den Koppeln stampften und wieherten, als sich die Macht der Beschwörung über das ganze Lager legte.
Teia schluckte. Der Kloß in ihrer Kehle war groß wie eine Faust, sodass sie kaum atmen konnte. Sie holte keuchend Luft, und ihr Innerstes schien sich zu verflüssigen. Zugleich trugen ihre Füße sie weiter auf den Ort der Beschwörung zu, wie sehr sie auch dagegen ankämpfte. Sie war so hilflos wie ein Fisch an der Angelleine.
Die Funkenwolke glühte gefährlich auf und wurde heißer und heller als die Kohlen in der Kohlenpfanne. Vom Herzen des Lammes war nur Asche übrig geblieben. Ytha schnitt die Leber des Tieres heraus; sie schlachtete es mit beiläufiger Gründlichkeit. Alle Sprecherinnen hatten ihren Stab vor sich auf die Erde gestützt, während der Gesang fortgesetzt wurde. Als Teia näher kam, erkannte sie, warum die Frauen sich abstützen mussten. Die Erde unter ihnen bebte. Mit jedem Fleischbrocken, den Ytha auf die Kohlen warf, wurden die Funken heller, und das Hämmern in Teias Kopf nahm zu.
Das Weben der Sprecherinnen hatte sie eingefangen. Am Rande ihres Blickfeldes sah sie eine Handvoll Mädchen, die ebenfalls auf den Ort des Rituals zutaumelten. Eines von ihnen war nicht älter als sechs oder sieben Jahre. Sie mussten ebenfalls die Gabe besitzen. Das Weben hatte alle Kraft, die zu finden war, in sich aufgesogen, damit es immer stärker werden konnte. Sicherlich war das kleine Mädchen zu schwach, um ihm zu widerstehen. Wie war es wohl für ein Kind, zum ersten Mal den Ruf zu vernehmen? Teia war damals viel älter gewesen. Aber sie konnte nichts tun. Das Mädchen war zwanzig Schritte von ihr entfernt, und Teia vermochte den Weg, den ihre Füße eingeschlagen hatten, nicht zu ändern.
Ytha opferte das letzte Stück Leber und stieß einen triumphierenden Schrei aus. Die Funkenwolke zuckte, flackerte auf, und in dem Rauch erschien etwas Schwarzes. Die anderen Sprecherinnen verstärkten ihre Anstrengungen und hoben den Gesang in noch größere Höhen, obwohl ihre Stimmen schon heiser waren. Mit einem heftigen Stich des schweren Messers brach Ytha den Schädel des Lammes auf und warf das Hirn in die Kohlenpfanne.
Der Lärm, der nun folgte, glich dem eines Bergrutsches oder dem Rufen eines Namens aus tausend Kehlen. Die Erde bebte, warf Teia um, und ein Riss in der Wolke spuckte einen dunklen Schemen aus.
Es war eine Gestalt, die zusammengerollt war wie ein Neugeborenes. Ganz langsam streckte sie sich, richtete sich auf wie nach einem langen, langen Schlaf. Ihre Umrisse waren verschwommen und undeutlich, schienen aus dem dichten schwarzen Rauch zu bestehen. Sie hatte Arme und Beine, trug einen langen Umhang, hielt einen Speer in der Faust und einen Schild am anderen Arm. Sie hob den Schildarm, setzte den grotesk gehörnten Helm ab und schüttelte die lange Mähne, das dunkle Haar. Auf dem Schild glomm dumpf ein aufgemaltes Auge.
Der Gesang wurde brüchig und leiser. Eine Welle der Kraft verließ Teia und ließ sie
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