Die wilde Jagd - Roman
Herz.
Während sie sorgfältig ihren täglichen Pflichten nachging, musste sie immer wieder an den Ritus denken, den die Sprecherin durchführen würde. Sie hatte erst ein einziges Mal eine Beschwörung miterlebt, vor sechs Wintern, als die Pest vier Clans in ebenso vielen Wochen niedergestreckt hatte. Die Sprecherinnen hatten einen Kreis um ein Feuer gebildet und ein verzweifeltes Gebet zur Göttin der Toten gesprochen, damit sie nicht noch mehr Seelen holte. Maegern hatte ihnen nicht geantwortet, und die Pest hatte drei weitere Wochen gewütet und Drwyns Mutter, seine zweite Frau und seinen kleinen Sohn in rascher Folge dahingerafft. Dann war sie genauso unvermittelt wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Die bereits Erkrankten waren entweder gestorben oder sie überlebten, und die Totenfeuer hatten den Himmel bis in die Zeit des Neumondes hinein schwarz gefärbt.
Hatte die dunkle Göttin damals etwas getan? Teia wusste es nicht. Natürlich behaupteten einige Clanangehörige, dass sie ihnen zu Hilfe gekommen sei, und sie hatten ihr Opfergaben dargebracht. Andere sagten, sie habe es nicht getan, und die Pest sei einfach von selbst verschwunden. Nun wollten die Sprecherinnen sie abermals anrufen, nicht nur im Namen vierer Clans, sondern aller siebzehn, und das Ergebnis würde über ihrer aller Zukunft entscheiden.
Teia stellte sich die Sprecherinnen vor ihrem inneren Auge vor: siebzehn Frauen in Polarfuchspelzmänteln und mit langen Stäben in einem Kreis um eine Kohlenpfanne, die auf einem niedrigen Steinhaufen stand. Teia sah sie recht deutlich, während sie die Kissen aufklopfte und auf dem Zeltboden verteilte. Siebzehn stille, entrückte Gesichter, jedes anders als die anderen, doch alle irgendwie gleich in ihrer Alterslosigkeit und Eindringlichkeit.
Eine von ihnen würde das Weben leiten und das Opfer durchführen. In Teias Gedanken war es Ytha, die vortrat und ein Messer aus ihrem Gürtel zog. Die Klinge war so lang wie ihr eigener Unterarm, die Schneide glitzerte. Ytha hob das Messer, legte es sich in die offenen Handflächen und sang. Die anderen Sprecherinnen hoben ihre Stäbe und antworteten dem Gesang. Im Hintergrund blökte ein angeleintes Lamm, das gleich der Göttin geopfert werden würde.
Teia bemerkte, dass sie reglos über das letzte Kissen gebeugt dastand.
Sie richtete sich auf und reckte und streckte sich, so weit sie es bei all den Prellungen konnte. Sie fühlte sich steif und müde, obwohl sie erst eine Stunde gearbeitet hatte. Ein wenig Luft würde ihr guttun. Sie trat vor das Zelt und blieb vor Erstaunen sogleich wieder stehen. Das Lager war verschwunden.
Teia keuchte auf. Sie konnte über eine ausgedehnte Fläche silbrig braunen Grases, das im Wind hin und her schwankte, bis zum Ufer des Sees sehen. Es gab keine Zelte, keine Kochfeuer und keine Tiere mehr. Teia roch Wasser und Wind und sonst nichts, und die einzigen Personen in Sichtweite waren die Sprecherinnen und ihre Häuptlinge, die in zwei Kreisen um den Steinhaufen standen. Einer der Häuptlinge hielt ein kämpfendes Lamm zwischen den Knien, das den Kopf hob, als sich Ytha mit dem langen Messer näherte. Das Messer schoss herab. Teia schaute weg.
Kreischende Kinder spielten Fangen zwischen den Zelten. Kochfeuer glommen. Frauen unterhielten sich und schauten angstvoll hoch zum dunklen Himmel. Männer reparierten Zaumzeug und schnitzten Bögen. Die Luft vibrierte vor Lärm. Teia wirbelte herum, aber durch den Rauch konnte sie den Ort, an dem sich die Sprecherinnen versammelt hatten, nicht erkennen. Sie wandte sich den Wächtern vor dem Zelt zu, aber die wirkten so unbeteiligt, wie es noch irgend möglich war, ohne tatsächlich zu schlafen. Der eine stützte sich auf seinen Speer und bohrte geistesabwesend in der Nase, während der andere gerade von der Latrine zurückkam und sich die Hose zuknöpfte.
Verwirrung umnebelte Teias Gedanken. Was hatte sie eben gesehen? Für wenige Sekunden war das Lager nicht mehr da gewesen, oder sie war nicht mehr im Lager gewesen. Jetzt hörte sie wieder den Gesang und wusste, dass er diesmal nicht nur in ihrer Einbildung ertönte.
Sie verstand die Worte nicht; sie spürte sie nur. Der Gesang pulsierte rhythmisch und eindringlich in ihrem Kopf. Vor sechs Jahren hatte sie die Beschwörung nur als eine vage Rastlosigkeit wahrgenommen, wie wenn der Wind die Richtung wechselte und die Kinder verrückt machte, sodass sie hasengleich durch die Gegend liefen. Doch diesmal war sie so drängend wie die
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