Die wilden Jahre
Augen lagen, ausgeruht: Panetzky duftete nach einem süßlichen Gesichtswasser, trug einen modischen Anzug und gab sich wie ein seriöser Geschäftsmann zu Beginn eines erfolgreichen Tages.
Auf der Platte seines riesigen lederbezogenen Schreibtisches lag ein Fernschreiben, das die kurzgliedrigen Kinderhände berührten, als streichelten sie den Text.
»Wäre mir das gestern bereits bekannt gewesen«, sagte Panetzky zu seinem Besucher, »dann hätte ich mir …«, er lächelte, »wenigstens die Einladung zum Mittagessen sparen können.«
»… das übrigens vorzüglich war«, antwortete Martin.
Panetzky sah auf das Schriftstück; er las: »Sie sind also am vierten September neunzehnhundertsechzehn geboren, Student der Volkswirtschaft – fünf Semester – dann Hauptmann der Reserve – ausgezeichnet mit dem …«
»Zur Sache, bitte!« unterbrach ihn der Besucher.
»… degradiert und zum Tode verurteilt«, fuhr Panetzky fort, als wollte er Martin beweisen, wie intakt seine subversiven Verbindungen auch weiterhin waren.
»Hinrichtung viermal kurzfristig verschoben …« Er legte das Blatt beiseite. »Kein Wunder, Ritt, daß Sie hart und unzugänglich geworden sind – jeder andere wäre es an Ihrer Stelle auch. Haben sie sich gut amüsiert, gestern Abend?« fragte er übergangslos. »Leider muß man in Zürich mit den Hühnern schlafen gehen.«
Er ist am Ende, dachte Martin, er versucht, dich noch einmal abzutasten; aber wenn er zu kämpfen wagte, wäre ich längst verhaftet und säße im kahlen Vernehmungszimmer des Polizeipräsidiums statt in einer Hochburg des Luxus, diesem Mann gegenüber, der sich unter einem wertvollen alten Gobelin gegen seinen Untergang stemmt. Martin betrachtete die Tapisserie, die Judith mit dem Kopf des Holofernes zeigte – eine schöne blühende Rächerin, das abgeschlagene runde Haupt des Feindes in der Hand.
»Holländische Arbeit?« fragte er.
»Fast«, antwortete Panetzky, »fünfzehntes Jahrhundert. Flämischer Ursprung – nach dem Entwurf eines unbekannten …«
»Doch sprechen wir nicht von Gobelins«, unterbrach ihn Martin, »sprechen wir von Geld. Haben Sie die Summe da?« – »Ja – unter Umständen …«, erwiderte Panetzky vorsichtig. »Wollen Sie sich vielleicht vorher noch einen Vorschlag anhören?«
»Wenn er kurz ist.«
Der Mann, der mit Waffen aller Art handelte – Menschen und Nachrichten eingeschlossen –, sprach sachlich und überzeugend. Er skizzierte rasch und treffend Westdeutschlands wirtschaftliche Situation nach der Währungsreform, die nach seinen Informationen unmittelbar bevorstünde. Er bot Martin die Hälfte des Gewinns an der ›Transaktion Kahn‹ an und erklärte sich bereit, den gleichen Betrag in eine gemeinsam zu gründende und zu betreibende Firma mit dem Sitz in Zürich einzubringen.
»Womit ich Ihnen garantieren könnte«, versicherte Panetzky, »daß Sie einen Tag nach dem Währungsschnitt in Deutschland einer der ersten DM-Millionäre wären.«
Er überzeugte sich durch einen Blick unter schützend herabgelassenen Augenlidern, daß Martin noch zuhörte, und fuhr rasch fort: Dann käme die Zeit der raschen, sicheren Gewinne. Das Geld läge auf der Straße, sei legal zu erwerben für Leute mit Kopf, »zu denen Sie fraglos gehören, Ritt – wie auch ich in der City von Zürich nicht gerade als unbedarft gelte.«
Zum Beispiel könne man jetzt in der Schweiz amerikanisches Nylongarn kaufen, es als Transitgut durch die westlichen Zonen in den deutschen Osten leiten, wo fast die gesamte frühere Strumpfindustrie ansässig sei. Die roten Wirtschaftsfunktionäre seien nur zu bereit, gegen einen durchaus bescheidenen Anteil am Rohmaterial daraus Strümpfe weben zu lassen. »Tonnenweise, Hunderttausende hauchfeiner links-gewebter Nylons, der Traum einer jeden Frau, die seit Jahren mit grauen Wollstrümpfen herumlaufen muß – verlassen Sie sich auf mich, Ritt: die deutschen Frauen werden am Tage X, noch bevor sie sich satt essen, unsere Nylongewebe kaufen.« Lauernd blickte Panetzky auf.
Es klang einleuchtend. Der Mann phantasierte nicht, überlegte Martin, Panetzky hatte schon immer gewußt, wo zu verdienen war, sei es nun am nackten Leben oder an nackten Beinen.
»Diese roten Brüder im Osten«, beteuerte der Import-Export-Fachmann, »sind gerade bei grauen Geschäften besonders korrekt.« Er habe seine Erfahrungen mit ihnen. Wenn es um Mangelgüter gehe, vergäßen sie Marx und dächten an Profit. »Mit dem
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