Die Wilden Küken - Auf der Alm (German Edition)
verführerische Sekunde lang erwog Lilli die Möglichkeit, den
Grottenolmen
doch hinterherzureisen. Die würden vielleicht Augen machen, da auf ihrer Alm in den Bergen. Aber große Schwestern durften auf gar keinen Fall die Geburt ihres kleinen Geschwisterchens versäumen. Schnell wischte Lilli alle Reisegedanken beiseite und dachte an das Baby. Ihre Eltern und sie hatten sich darauf geeinigt, dass bei der Geburt nur Lillis Vater dabei sein sollte, aber gleich danach würde Lilli ihr Geschwisterchen im Arm halten dürfen.
Bob, Very und Enya setzten sich zu Lilli auf die Schaukelbank, stützten sich mit den Füßen an der Reling ab und schaukelten sacht vor und zurück. Acht Knie hoben und senkten sich.
»Ich bin noch nie auf einen Berg gekraxelt!«, sagte Enya. »Also noch nie auf einen richtig hohen.«
»Wir fahren nur immer über die Berge drüber.« Bob verschränkte die Arme. »Auf dem Weg nach Italien!«
»Man braucht eine Creme mit extrem hohem Lichtschutzfaktor!« Very legte den Kopf in den Nacken. »Wegen der Höhensonne!«
Ein Schwarm Mücken schwirrte über dem Weiher, und Lilli schaute den Insekten so intensiv dabei zu, bis ihr das Bild vor Augen verschwamm und sie anfing zu träumen. Lilli schwebte. Leise sirrte das Seil der Seilbahn. Unter ihr erstreckten sich grüne Almen, felsige Schluchten und dunkle Wälder. Neben ihr saß Ole. Fast hätten sie die Baumwipfel unter sich mit den Fußspitzen berühren können. Unergründlich wie das Wasser eines Bergsees schimmerten Oles tiefblaue Augen. Seine und Lillis Hand berührten sich am Liftbügel und dann … schrillte ein Telefon und riss Lilli aus ihrem Tagtraum.
»Das kommt aus deiner Tüte, Bob!« Very sprang auf und sofort geriet die Schaukelbank aus dem Rhythmus.
Wieder klingelte es. Bob schnappte sich die Tüte, die neben der Deckelkiste lag. Hektisch dröselte sie den Knoten auf, holte einige in Folie gewickelte Tramezzini und schließlich ein klingelndes Handy heraus, das nicht ihr gehörte. »Ich muss Giulias Tüte erwischt haben! Sie und Justin waren heute Morgen bei uns zum Frühstück, weil …« Bob unterbrach sich und ging ran. »Giulia, falls du dein Handy suchst, das hab ich!« Sie lauschte in das Telefon ihrer Schwester. »Ja, ja, ja! … Jetzt reg dich ab, ich bring es dir vorbei! …
Al più presto
. So schnell wie möglich, ja, bis gleich!« Bob legte auf und seufzte. »Ich muss los!«
»Wir kommen mit!«, riefen Lilli, Very und Enya wie aus einem Mund. Alles war besser als das langweiligste Bandentreffen aller Zeiten.
Lilli, Very und Enya trabten hinter Bob die Stufen hinauf. Das Mietshaus, in dem Giulia mit ihrem Freund Justin lebte, hatte keinen Lift, und die Wohnung der beiden lag im fünften Stock. Ein wahrer Höllenlärm schallte durch das ganze Gebäude und wurde mit jedem Treppenabsatz lauter.
Bob drückte den Klingelknopf unter Giulias und Justins Namensschild. Aber in dem Bohren und Hämmern hinter der Wohnungstür ging das Läuten vollkommen unter. Bob klopfte immer kräftiger gegen die Tür und rief gleichzeitig durchs Schlüsselloch nach Giulia. Endlich verstummte das Rattern des Bohrhammers.
»Giulia, Justin, ich bin’s!« Bob drückte so lange auf den Klingelknopf, bis drei Außerirdische mit Atemmasken und Schutzbrillen im Türrahmen erschienen. Die von oben bis unten eingestaubten Kreaturen schoben sich die Brillen in die Stirn und entpuppten sich als Justin und seine beiden Kumpel. Mit dem grauen Betonmehl in den Haaren wirkten sie wie alte Männer.
»Wir renovieren!« Stolz ließ Justin den Bohrhammer in seiner Hand aufjaulen. »Vadim und Jochen!«, stellte er die anderen beiden Grauköpfe vor.
»Wir sind alte Schulfreunde von Justin«, sagte Jochen, und Vadim fügte hinzu: »Und ziemlich gute Heimwerker!«
Bob stieg über Dämmstoffballen, Zementsäcke und Bauschutt und die anderen
Wilden Küken
folgten ihr.
Justin trank einen Schluck Mineralwasser aus einer mörtelverschmierten Flasche. »Wir nehmen eine Zwischenwand raus.« Er wies ins Innere der Wohnung, die einem Schlachtfeld glich. In der Küche drehte sich eine Betonmischmaschine, vor der ausgehängten Schlafzimmertür wehte eine staubige Plastikfolie, und das hinter einer Wandruine liegende Wohnzimmer existierte quasi nicht mehr.
»Wo ist Giulia?« Bob schlenkerte mit der Tüte.
»Ah, Proviantnachschub!« Vadim rieb sich erfreut die mörtelgrauen Hände.
Zu Lillis, Verys und Enyas Missfallen murmelte Bob ein »Meinetwegen« und überließ
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