Die Wilden Küken - Auf der Alm (German Edition)
Werkstattwagen mit der Aufschrift
Schreinerei Stefan Holler
auf die Straße hinaus. Luisa hockte neben Lilli auf der staubigen Rückbank und quetschte bei jedem Schlagloch Lillis Hand.
Vor dem Autofenster zogen die nächtlichen Lichter der Stadt vorbei, es fing an zu tröpfeln und das gleichmäßige Geräusch der Scheibenwischer ließ Lilli gähnen. Bei jeder roten Ampel und besonders bei der Umleitung, die wegen Bauarbeiten kurzfristig eingerichtet worden war, schimpfte Stefan aufgeregt vor sich hin. Luisa hingegen wurde von Minute zu Minute ruhiger und schlug schließlich vor umzukehren, weil es ihr schon wieder viel besser ginge. »Vielleicht waren es nur die Krabbenchips!«
»Oder du hast einfach eine Wehen-Pause!« Lillis Vater überholte einen Mofafahrer. »Schau auf die Uhr, Luisa, und stopp, in welchen Abständen sie kommen!« Er hupte und trat aufs Gaspedal.
Sie erreichten endlich das Krankenhaus und fanden auch gleich einen Parkplatz. Stefan stellte den Motor des Lieferwagens ab und klopfte zufrieden auf seine Armbanduhr. »Schneller als bei jeder Übung!«
Lilli und Luisa warteten auf den Stühlen vor dem Anmeldezimmer. Luisa machte irgendeine Yogaübung. Das heißt, sie machte eigentlich gar nichts, sondern atmete nur ganz gleichmäßig ein und aus. Lillis Hand lag auf Luisas Babybauch und hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Einatmen, ausatmen. Lilli atmete mit, sodass ihr vor lauter Entspannung fast die Augen zugefallen wären. Aber da bog auch schon eine Krankenschwester mit einem leeren Rollstuhl und Lillis Vater im Schlepptau um die Ecke. Sie half Luisa in den Stuhl und schob sie vor sich her. Lilli und ihr Vater folgten den beiden durch ein wahres Labyrinth von Korridoren. Bei jedem Schritt quietschte der glänzende Boden unter Lillis Sohlen.
In der gynäkologischen Abteilung wurde Luisa auf eine Liege gebettet und die Schwester schnallte ihr Gurte mit Sensoren um den Babybauch.
»Mit dem Wehenschreiber«, die Schwester klopfte auf das medizinische Gerät, »messen wir die Herzfrequenz des Ungeborenen in Verbindung mit der Dauer, Stärke und Häufigkeit der Wehen.«
Unwillkürlich musste Lilli an die Seismographen und Vulkanausbrüche in der Fernsehdokumentation denken. Nur die leise Musik, die aus irgendeinem verborgenen Lautsprecher kam, war alles andere als dramatisch.
»Stört Sie die Beruhigungsmusik, Frau Holler?«, fragte die Schwester.
Besorgt stützte Luisa ihren Oberkörper auf die Ellbogen. »Ich höre die Herztöne gar nicht?«
Die Schwester stellte die Musik ab und drückte ein paar Tasten auf dem Wehenschreiber.
Lilli hielt den Atem an. Deutlich hörte man ein wallendes Rauschen und darüber den Herzschlag des Babys.
»Komm, wir warten draußen!« Die Schwester zwinkerte Lilli auffordernd zu, zog sie mit sich zur Tür und wandte sich an Lillis Eltern. »Gleich kommt eine Hebamme oder ein Arzt.«
Lilli schaute Hilfe suchend zu ihrem Vater. Sie wusste nicht, warum sie plötzlich nicht mehr hierbleiben durfte.
»Keine Sorge, Lilli!« Stefan schlüpfte gerade in den grünen Krankenhauskittel, den ihm die Schwester gegeben hatte. »Ich sag dir sofort Bescheid, einverstanden?!«
Lillis Vater und Luisa lächelten ihr auffordernd zu, also ging Lilli hinaus und eilte hinter der Schwester her über den Korridor.
Hinter einer Tür mit dem Schild
Kreißsaal
hörte Lilli eine Frau schreien.
»Ist normal!«, sagte die Krankenschwester. Sie schob Lilli in einen Warteraum und drückte ihr eine Zeitschrift in die Hand.
Fit im Alter
, las Lilli den Titel. Sie fand, ihre Fitness im Alter könne noch warten, legte die Zeitschrift beiseite, setzte sich und betrachtete die Bilder an der Wand. Die meisten zeigten Landschaften, aber auf einem war eine Balletttänzerin dargestellt. Lillis leibliche Mutter Nadja war Tänzerin. Müde kuschelte Lilli sich tiefer in den Sessel und versuchte, sich Nadjas Gesicht vorzustellen. Es war noch gar nicht so lange her, dass Lilli und ihre Mutter sich überhaupt kennengelernt hatten. Abgesehen von ganz früher, als Lilli selbst noch ein Baby war. Elf Jahre lang hatte Nadja Lilli im Stich gelassen und das tat noch immer ein bisschen weh. Lilli schlüpfte aus den Schuhen und zog die Beine zu sich heran. Sie und Nadja würden zwar nie richtig Mutter und Tochter sein, aber sie waren immerhin so etwas wie gute Freundinnen geworden. Nur leider war Nadja fast immer mit ihrer Tanzkompanie unterwegs. Und wenn sie gerade kein Engagement an irgendeinem Theater
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