Die Wildnis
Shepard den Kopf zurück und holte tief Luft. Jack erwartete schon einen seiner kehligen Hustenanfälle, doch der blieb aus. Ein gutes Zeichen. Shepard blickte zu dem Kaminrauch der Stadt und nickte, als würde er sich selbst etwas bestätigen.
»An die Arbeit, Junge«, sagte Shepard.
Junge . Da war wieder dieses verhasste Wort. Doch heute protestierte Jack nicht dagegen. Vielleicht war es nur alsKosename gemeint, oder wollte der alte Soldat sich und den jungen Stiefbruder seiner Frau daran erinnern, wer hier das Sagen hatte? Egal. Jack würde sich vom eisigen Norden nicht kleinkriegen lassen, und noch weniger würde er sich durch ein einziges Wort aus der Ruhe bringen lassen, trotz seines oft hitzigen Temperaments.
Also machten sie sich an die Arbeit.
Mit Jack als Aufpasser und Vorarbeiter und Shepard als Zahlmeister hatten sie schnell eine Truppe hilfsbereiter Einheimischer zusammengestellt. Ihre Ausrüstung traf nach und nach in Kisten und Bündeln am Strand ein, und die geschäftstüchtigen Indianer trugen sie weiter den Strand hinauf und stapelten sie ordentlich an einer Stelle, die Jack ausgesucht hatte. Da sie keinem vertrauen konnten, blieb Jack am Strand bei den Sachen, während Shepard das Abladen überwachte.
An diesem Nachmittag kam die Flut sehr schnell herein, drei Kisten wurden in der nahenden Brandung nass. Jack feuerte die Männer an, schneller zu arbeiten, sonst würden sie keinen Cent bezahlt bekommen. Die letzte Kiste schleppte er selber mehrere Meter den Strand herauf, um sie vor dem Wasser in Sicherheit zu bringen.
Sie waren erst halb fertig, als der Preis angehoben wurde. Bei Ebbe verlangten die Indianer 20 Dollar die Stunde – was schon ein astronomisch hoher Preis war – doch als die Wellen stiegen und die Flut näherkam, verlangten sie plötzlich 50 Dollar die Stunde.
»Bei dem Preis können sie doch gleich eine Knarre auf uns richten!«, ärgerte sich Jack entrüstet, während die Männer davoneilten, um sich am nächsten verzweifelten Passagier zu bereichern.
Shepard schien ihn kaum gehört zu haben. Der Mann hatte ein Lächeln im Gesicht, das Jack noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte, nicht einmal bei seinen zärtlichen Momenten mit Eliza.
»Ich hab einen Burschen beauftragt, uns ein Zimmer für die Nacht zu suchen«, sagte Shepard. »Wir brechen mit der Morgendämmerung auf.«
Er bemerkte, wie Jack ihn musterte.
»Was glotzt du denn so?«, wollte Shepard wissen.
»Du siehst gut aus«, staunte Jack. »Bereit für das Abenteuer?«
Shepard schien sich die Frage einen Moment lang durch den Kopf gehen zu lassen. Jack hatte eine lockere Antwort erwartet, einen Moment der Entspannung, ehe sie einen weiteren Trupp Indianerträger engagierten, um das Gepäck in die Stadt zu bringen. Doch sein Schwager wirkte irgendwie besorgt.
»Ich bin 61, Junge, und der Herrgott hat mir ein schwaches Herz gegeben.« Shepard blickte auf die Bündel und Kisten, die sich am Strand stapelten. »Nachts träume ich vom Gold. Es ist vielleicht das Einzige, das mich noch am Leben hält.«
Jack nickte. »Also gut, dann werden wir mal welches finden.«
Nachdem sie eingeborene Träger engagiert hatten, um ihre Ausrüstung und den Proviant zum Hotel zu tragen – und sie fürstlich entlohnt hatten –, schulterten Jack und Shepard ihre Rucksäcke und marschierten vom steinigen Strand ins Zentrum von Dyea. Wobei der Begriff »Zentrum« wohl nicht ganz zutraf, denn Dyea bestand nur aus einer einzigen Hauptstraße und einigen Randbebauungen. Es war eher eine Siedlung, weit davon entfernt, eine richtige Stadt zu sein. Bei der Ankunftvom Meer aus hatte Jack einen merkwürdigen Moment der Orientierungslosigkeit gehabt, als ob sie sich nicht in Alaska befanden, sondern in Deadwood, als der kalifornische Goldrausch noch im vollen Schwung war.
Als die Umatilla vor Anker gegangen war, war der Himmel von einem glasklaren Blau gewesen, doch an der Küste schien permanent ein leichter Nebel über Dyea zu hängen. Dazu kamen die Rauchschwaden aus den Kaminen der Siedlung und ergaben einen grauen Schleier, der den Blick ostwärts eintrübte. Man konnte die Umrisse eisiger Erhebungen in der Ferne erkennen, doch während sie die Main Street hinaufgingen, galt ihre Aufmerksamkeit erst mal der Umgebung um sie herum.
Zu ihrer Rechten lag eine Reihe fast identischer, scheunenartiger Gebäude. Jedes hatte direkt unterm Giebel ein kleines Fenster und darunter einen Ladeneingang. Jack betrachtete die Schilder – Yukon
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