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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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körperlich davon angezogen, und er musste sich zusammenreißen, um nicht gleich loszulaufen und es heute Nacht gleich in Angriff zu nehmen, Ausrüstung hin oder her. Die ganze Überfahrt hatten sie Geschichten von Todesopfern auf dem Trail gehört, von Männern, die umgekehrt sind oder aufgegeben haben. Shepard war beim bloßen Anblick des bedrohlichen Gebirges eingeknickt.
    Aber nicht Jack. Der eisige Norden würde ihn nicht in die Knie zwingen. Nur der Tod konnte ihn jetzt noch aufhalten.

KAPITEL 2

TODESMARSCH
    In Dyea hieß es, ein Mann, der kein bestimmtes Ziel hätte, könnte monatelang auf dem Chilkoot-Trail überleben, ohne dass es ihm je an etwas fehlen würde: Warme Kleider, getrocknetes und gepökeltes Fleisch, Bohnen in Dosen, Jagdgewehre, Zelte … Der Handelsposten in Dyea wäre pleite gewesen, wenn die Landstürmer, die zu Tausenden am Strand ankamen, gewusst hätten, dass sie ihre ganze Ausrüstung gratis auf dem Weg zusammenklauben konnten. Vor allem auf der Westseite des Gebirges, beim Anstieg auf die tausend Meter Passhöhe, wo auch im Spätsommer eisige Winde die Reisenden peitschten, lag überall zurückgelassene Ausrüstung herum.
    Auch wenn einem der Sinn nach frischem Fleisch stand, wurde man vom gnadenlosen Terrain des Chilkoot-Trails nicht enttäuscht. Pferde brachen vor Erschöpfung zusammen, knickten sich in Spalten die Beine ab oder stürzten und brachen sich die Wirbelsäule, wenn es zu steil wurde. Manche wurden mit einem Fangschuss von ihrem Elend erlöst, andere hingegen von hartherzigen Männern einfach einem langen, qualvollen Tod überlassen, weil diese keine Kugel verschwenden wollten.
    Ohne Shepard an seiner Seite hatte Jack beschlossen, lieber mit wenig Gepäck zu reisen. Er machte ihre Kisten auf und holte nur das Nötigste heraus. Das Übrige verkaufte er an den Besitzer von Hayley’s Hotel. Shepards Klamotten tauschte er mit einem kräftigen, bärtigen Kerl namens Merritt Sloper, den er auf der Umatilla kennengelernt hatte. Sloper hatte eine besonders schöne Bratpfanne und mehrere Säcke Kaffee, die er bereit war, unter der Bedingung herzugeben, dass Jack ihm einen Kaffee spendieren würde, falls sie sich irgendwo unterwegs trafen.
    Als der Handel beschlossen war, hatte Jack noch eine Decke aus Shepards Gepäck genommen und dann seine eigenen Sachen aussortiert. Bis er an dem Abend einschlief, hatte er drei Viertel von allem, was sie mitgebracht hatten, verkauft, verschenkt oder weggeworfen. Selbstsicher wie nie, zufrieden und erschöpft, wie er war, hatte er eigentlich erwartet, bis zum Morgengrauen durchzuschlafen.
    Als er dann verwirrt und orientierungslos mitten in der Nacht aufwachte, setzte er sich auf und atmete in der Dunkelheit erst mal tief durch. Ich bin in Hayley’s Hotel in Dyea , sagte er sich. Dann hörte er ein Ächzen.
    Jack hielt den Atem an. Er hatte zwar noch nie Angst vor der Dunkelheit gehabt, aber er hatte auch gelernt, sie zu respektieren.
    Da war wieder das Ächzen: Es war eine Diele, die unter einem Gewicht knarrte, das nicht hätte da sein dürfen. Wer auch immer es war, versuchte leise zu sein.
    »Wer ist da?«, raunte Jack.
    Eine Tür schwenkte auf, wo er zuvor keine Tür gesehen hatte. Er war so beunruhigt, dass es eine Weile dauerte, bis erdie gespreizte Hand auf dem Holz sah, und noch länger, bis er der Hand zum Arm gefolgt war und von dort die Schulter entlang zum Gesicht, das in der Dunkelheit hing.
    »Mutter?«, staunte er. Als er sie erkannte, bemerkte er auch die vertrauten Gerüche von zu Hause: abgestandenes Essen und Räucherstäbchen.
    »Unheil wird kommen«, verkündete seine Mutter, aber es war nicht ihre Stimme. Der Tonfall war flach, eiskalt, fast gleichgültig. »Unheil im Norden, ein Todesschrei in der großen weißen Stille, und nur die Geister werden Zeuge sein.« Sie kam ins Zimmer herein, und Jack hielt die Luft an. Das ist doch nicht meine Mutter, dachte er, und obwohl das absurd war – die Frau vor ihm war eindeutig seine Mutter, es waren ihre Haare, ihr Gesicht, ihr Nachthemd – konnte er den Gedanken nicht abschütteln. Irgendwas an ihrer Erscheinung war beunruhigend, als ob ein Fremder unter ihrer Haut lauerte und nach außen drängte. Sie wirkte völlig starr, ihre Haut war durchschimmernd und hatte die Farbe frisch gefallenen Schnees.
    So etwas Ähnliches hatte er schon mal gesehen. Sie hatte ihm gesagt, es sei ihr Geistführer, der durch sie sprach. Er hatte noch nie an solchen Unsinn geglaubt und verachtete

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