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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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Handelsposten, US-Postamt, Coughlin Landry Eisenwaren, Holländer-Bill’s Saloon.
    Die linke Straßenseite kam ihnen schon eher bekannt vor: ein alleinstehendes Gebäude mit bunt bemalter Fassade und einem Schild, auf dem nur TANZSAAL stand. Danach kam Hayley’s Hotel, ein großer Kasten mit groben Holzschindeln verkleidet wie alle anderen Gebäude – und den Namen direkt aufs Holz gepinselt.
    »Sieht aus, als würde es gleich einstürzen«, grummelte Shepard.
    »Ich hab schon viel schlimmer übernachtet«, sagte Jack und dachte an Abstellgleise und Gefängniszellen. »Auf jeden Fall wäre es schön, wenigstens ein weiches Bett für die Nacht zu haben, schließlich werden wir eine ganze Weile darauf verzichten müssen. Und ein Bad würde keinem von uns schaden.«
    Shepard grunzte belustigt. Nach achten Tagen auf hoher See stanken sie beide zum Himmel. »Erst mal hinkommen.«
    Das war tatsächlich nicht ganz leicht. Die ganze Straße war ein einziges Schlammloch mit Stiefel-, Huf- und Wagenradabdrücken. Stellenweise war der Schlamm zu hohen Wulsten zusammengebacken, an anderen Stellen stand Wasser in den Tälern dazwischen.
    Während sie diese Bachläufe und Pfützen zu umgehen versuchten und der Schlamm an ihren Stiefeln saugte, wurden Shepards Atembeschwerden unter der Last seines fünfzig Pfund schweren Rucksacks immer größer. Jack warf ihm heimlich einen Blick zu: Anstatt vor Anstrengung rot zu glühen, war sein Schwager kreidebleich geworden. Es dauerte sicher nicht mehr lange, bis Shepard seinen Rucksack nicht mehr tragen konnte.
    »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Jack.
    »Es geht schon«, murmelte Shepard.
    Die ganze bisherige Reise waren sie harmonische Reisegefährten gewesen, doch nun kam zunehmend Spannung zwischen ihnen auf. Auf der ganzen Welt liebte Jack keinen Menschen so sehr wie seine Stiefschwester Eliza. Sie hatte ihn praktisch großgezogen, und nun hatte er gegen ihren Wunsch und mit vollem Wissen um die schlechte Gesundheit seines Schwagers heimlich mit ihm den Plan für dieses Abenteuer geschmiedet. Und Shepard war auch noch praktischerweise bereit gewesen, die gesamte Reise zu finanzieren.
    Vielleicht war Jack zu selbstsüchtig gewesen. Doch das half jetzt auch nichts mehr. Außerdem war Shepard ein begeisterter und beharrlicher Gefährte.
    Er versuchte, seine Schuldgefühle zu mildern, indem er sichden anderen Grund für diese Reise vor Augen hielt: seiner Mutter zu helfen. Am Tag der Abreise hatte Eliza ihm enthüllt, dass ihre Mutter kurz davor stand, ihr Haus zu verlieren. Sie hatte sich lange Zeit auf seine Einnahmen verlassen, und seine kürzliche einmonatige Abwesenheit – eingesperrt wegen Landstreicherei, was seine Familie nicht wusste – hatte sie weiter in die Schulden rutschen lassen. Sie hatte sogar wieder damit angefangen, Geisterbeschwörungen und andere lächerliche Rituale als spirituelles Medium abzuhalten, eine Absurdität, die sie als bare Münze ausgab und die Jack zuwider war. Er war überzeugt davon, es sei nichts weiter als Betrug und Bauernfängerei. Doch obwohl diese Frau kaum Liebe in ihrem Herzen verspürte – als Junge hatte er alle Liebe und Zuwendung von Eliza erfahren –, war sie dennoch seine Mutter. Wenn er Gold finden sollte, könnte sie ihr Haus behalten und die spiritistische Scharlatanerie aufgeben. Doch das schien ihm im Moment die geringste aller Sorgen zu sein: Es war Shepard, der ihm Sorgen bereitete.
    Doch Shepard sah das anders: Er war ein Mann, kein krankes Kind, um das man sich kümmern musste. Jack glaubte ja auch, dass jeder seines Glückes Schmied war. Aber er mochte gar nicht daran denken, wie es wäre, wenn Shepard eines Tages etwas zustoßen würde und er Eliza davon berichten müsste.
    Mit Blick nach vorn und erhobenem Kinn marschierte Jack über die schlammige Ruine der Hauptstraße von Dyea auf den hölzernen Gehweg vor Hayley’s Hotel zu. Erst als er das Holz erreicht und sich den Schlamm von den Sohlen gekickt hatte, sah er sich nach Shepard um.
    Der Mann war ein Dutzend Schritte hinter ihm stehen geblieben.
    »John?«, fragte er.
    Shepards Gesichtszüge waren schlaff geworden, mit aufgerissenen Augen starrte er ostwärts, unter dem Gewicht seines Gepäcks leicht vornübergebeugt. Er war zuvor schon blass gewesen, nun sah er ernsthaft krank aus. Er blinzelte, räusperte sich, und dann überkam ihn ein kräftiger Hustenanfall, bei dem er nach vorne zusammenklappte. Der alte Soldat ließ seinen Rucksack von seiner Schulter

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