Die Winterchroniken von Heratia 1 - Der Verfluchte (German Edition)
nie ein Student in dem Bereich jenseits der Hecke gewesen. Es war auch nicht ohne weiteres möglich, darüber zu spähen – drei hochgewachsene Männer aufeinander würden nicht darüber blicken können – und sie hatte den Ruf, undurchdringlich zu sein. Es war von daher wenig verwunderlich, dass sich viele Gerüchte um den Ort dahinter rankten.
Kie neben ihr gähnte ausgiebig. »Heute war ein anstrengender Tag, nicht wahr?«
»Du musst nicht mit mir kommen, Kie. Es wird immer später und morgen ist ein langer Tag.« Serrashil warf einen Blick auf den rötlichen Sichelmond über ihnen. Eigentlich sollten sie alle schon längst in ihren Betten sein.
Kie winkte ab. »Ich wollte den Schulleiter schon immer mal aus der Nähe –« Sie blieb abrupt stehen. »Sieh nur, ist er das nicht schon?«
Serrashil blickte in die Richtung, in die ihre Freundin zeigte. Tatsächlich. Dort, wo der Weg direkt in die Hecke lief und darunter verschwand, konnte sie im Mondlicht die Silhouette einer menschlichen Gestalt ausmachen.
Noch ehe sie etwas sagen oder tun konnte, hatte Kie ihren Arm empor gestreckt und winkte. »Hallo, Yua!«
Serrashil fuhr erschrocken zu ihrer Freundin herum. »Nicht! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst den Schulleiter doch nicht bei seinem Vornamen ansprechen!« Sie warf einen Blick auf die Gestalt am Ende des Weges und biss sich auf die Unterlippe. Hoffentlich hatte Rinartin sie nicht gehört! Sie wusste zwar inzwischen, dass er ein freundlicher und ruhiger Mensch war, aber sie durfte nicht vergessen, dass er eine wichtige Persönlichkeit war. Man hatte ihn mit Respekt zu behandeln.
»Oh, das ist kein Problem«, erwiderte Kie schulterzuckend. »Er stammt auch aus Chaylia, dort sprechen wir uns immer nur mit dem Vornamen an. Alles andere wäre beleidigend.«
Serrashil starrte ihre Freundin entgeistert an. Nur mit dem Vornamen? Sie schluckte. Das hatte sie nicht gewusst! Fieberhaft ging sie in Gedanken die Versammlung am frühen Morgen im Rondarium durch. Hatte sie ihn irgendwann mit seinem Nachnamen angesprochen und dabei unbewusst vor den Kopf gestoßen?
»Da seid Ihr ja, Serrashil.«
Vor Schreck machte sie einen Satz nach hinten und wäre beinahe in den Schnee gestolpert, wenn Kie sie nicht geistesgegenwärtig festgehalten hätte. Mit klopfendem Herzen blickte sie in das Gesicht ihres Schulleiters, der mit einem Buch unter dem Arm geklemmt vor ihr zum Stehen gekommen war. Er bewegte sich so leichtfüßig, dass sie ihn nicht hatte kommen hören.
»S-Schulleiter Rinar- äh, ich meine, ich meine natürlich …« Erschrocken fasste sich Serrashil an die Stirn. Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Der Name! Wie war noch einmal sein verflixter Vorname? Sie starrte den Schulleiter verzweifelt an, der ihren Blick mit einem freundlichen Lächeln erwiderte.
»Wie bitte?«, fragte Rinartin nach, als die Stille zwischen ihnen peinlich zu werden drohte.
Serrashil biss sich auf die Lippen. Ihr Kopf war wie leergefegt. Warum konnte sich nicht der Erdboden unter ihren Füßen auftun und sie verschlingen? Sie kämpfte die Tränen der Hilflosigkeit nieder, die in ihr aufzusteigen drohten, und schluckte den dicken Klos runter, der ihr die Kehle zuschnürte. »Nichts«, würgte sie hervor.
Der Schulleiter blinzelte. »Wie dem auch sei. Ihr habt meine Nachricht erhalten, nehme ich an. Ich würde mich gerne mit Euch unterhalten.«
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Natürlich. Sie hatte ihn doch mit seinem Nachnamen angesprochen, zu allem Überfluss jetzt schon wieder. Sicherlich hatte er sie rufen lassen, um sie dafür zu bestrafen. Sie krallte ihre verschwitzten Finger in ihren Mantel. Ob er sie für so eine Kleinigkeit von der Schule werfen würde? War es denn eine Kleinigkeit? Sie warf einen Blick zu Kie, die verträumt mit ihren Zöpfen spielte. Wenn Serrashil doch nur noch einmal unter vier Augen mit ihr sprechen könnte! Dann würde sie Kie fragen können, wie schlimm es wirklich war, wenn man jemanden aus Chaylia mit seinem Nachnamen ansprach.
»Leider könnt Ihr nicht mit uns kommen.« Rinartin wandte sich an Kie und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln.
»Ich weiß.« Sie kreuzte die Hände über der Brust und verbeugte sich so tief, dass ihre Haarspitzen fast den Schnee zu ihren Füßen berührten. »Narae beura.«
Rinartins Lächeln wurde herzlicher. »A ria na«, erwiderte er ebenfalls in seiner Muttersprache. Anschließend gab er Serrashil einen Wink, ihr zu folgen. Ihr
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