Die Winterchroniken von Heratia 1 - Der Verfluchte (German Edition)
weiter auszufragen – so eine Chance bekam man sicherlich nicht zweimal im Leben. Aber Serrashil wollte es sich nicht mit dem Schulleiter verscherzen, wenn sie es nicht sowieso schon getan hatte.
Sie erreichten den See. Am Ufer befand sich ein kleiner Steg mit einem Boot. Rinartin stieg hinein und deutete Serrashil, es ihm gleichzutun. Das Wasser plätscherte in der Stille, während sie vorsichtig ins Boot kletterte. Der Boden unter ihren Füßen schwankte und gab plötzlich nach, ein ungewohntes Gefühl. Serrashil setzte sich auf ein eingelassenes Brett und klammerte sich mit den Händen an den Bootswänden fest. Rinartin blieb am Bug stehen, während sich das Gefährt wie von Geisterhand in Bewegung setzte. Das Wasser um sie herum kräuselte sich und verwischte das Spiegelbild der Sterne über ihnen.
Es rumpelte, als sie das andere Ufer erreichten, an dem sich ebenfalls ein Steg befand. Rinartin stieg aus und reichte Serrashil eine Hand, um ihr aus dem Boot zu helfen.
Sie hatte anfangs geglaubt, sie würden den See überqueren, doch nach dem, was sie erkennen konnte, sah es eher nach einer Insel aus. Gleich nach dem Steg begann ein Wald mit Bäumen, wie Serrashil sie noch nie gesehen hatte. Mit großen Augen blickte sie zu den Kronen auf, die sich vom Sternenhimmel abzeichneten. Obwohl es sich um Laubbäume handelte, hatten sie ihre Blätter nicht abgeworfen. Dort, wo kein Schnee lag und das Licht des Mondes auf die Baumkronen schien, schimmerten sie beinahe golden.
»Sind das …?«, setzte Serrashil an und biss sich auf die Lippe. Sie hatte es schon wieder getan. Sie musste es sich dringend abgewöhnen, ständig Fragen zu stellen.
»Man könnte sagen, dass diese Bäume aus dem Großen Wald stammen, ja.« Rinartin schlug den einzigen Weg ein, den es gab. Er führte mitten in den Wald hinein. Serrashil fröstelte. Täuschte sie sich, oder wurde es kälter? Dunkler auf jeden Fall. Die dichten, von Schnee bedeckten Baumkronen hinderten jeden Lichtstrahl daran, zum Boden vorzudringen. Kein Wunder, das zwischen den Stämmen nichts wuchs.
Rinartin rieb seine Handflächen aneinander und flüsterte etwas, das Serrashil nicht verstand. Als er seine Hände öffnete, flog eine Lichtkugel daraus hervor, die vor ihnen hertanzend den Weg beleuchtete. Eine Weile lang wanderten sie schweigend nebeneinander durch den Wald. Die Stille verlor ihre Friedlichkeit und nahm gespenstische Ausmaße an. Es gab abgesehen von den Bäumen weder Pflanzen noch Tiere, zumindest konnte Serrashil nichts davon erkennen. Alles, was in dieser kleinen Welt des Waldes existierte, waren sie, Rinartin und seine Lichtkugel. Immer wieder drehte sie sich zum Waldrand um, ihrer einzigen Verbindung zur Außenwelt. Als Serrashil ihn nicht mehr erblickte, ergriff die Angst wie eine eiserne Hand ihr Herz und brachte es dazu, schneller zu schlagen, um gegen den festen Griff anzukämpfen. All ihre Instinkte schrieen danach, umzukehren und möglichst viel Land zwischen sich und diesen seltsamen Wald zu bringen.
Gerade, als sie kurz davor war, wirklich die Flucht zu ergreifen, erkannte sie zwischen den Bäumen einen zweiten Lichtschein. Unwillkürlich schob sich Serrashil leicht hinter Rinartin. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich darüber freuen sollte oder ob es ein schlechtes Zeichen war, wenn in diesem leeren Wald ein einsames Lichtlein leuchtete.
Der Schulleiter schritt weiter auf das Licht zu. Serrashil folgte ihm zögerlicher, wagte es aber nicht, den Abstand zwischen sich zu groß werden zu lassen. Sie wollte keinesfalls den Anschluss verlieren und blind und verloren in dem Wald herumirren. Die Schatten zwischen den Bäumen wirkten so seltsam, fast schon so, als wären sie greifbar. Außerdem glaubte Serrashil aus den Augenwinkeln zu sehen, dass sie sich bewegten. Wenn sie in die entsprechende Richtung sah, war jedoch alles ruhig.
Je näher sie dem Licht kamen, desto deutlicher zeichnete sich der Umriss eines Häuschens im Schein einer einzelnen Laterne ab. Es befand sich auf einer Lichtung, was Serrashil unwillkürlich aufatmen ließ. Nach dem Marsch durch diesen merkwürdigen Wald gab es nichts Schöneres, als den Himmel über ihren Köpfen zu sehen.
Der Schnee knirschte wieder unter ihren Stiefeln, nachdem sie die Lichtung betreten hatten. Endlich ein Geräusch, das die drückende Stille vertrieb. Rinartin öffnete das Tor des hüfthohen Zauns, der das Häuschen umgab. Vom Kamin stieg Rauch auf, was der Szenerie etwas Heimeliges verlieh. Ob
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