Die Winterchroniken von Heratia 1 - Der Verfluchte (German Edition)
direkt vor der Tür gestanden hatte.
Serrashil zog die Augenbrauen zusammen, überlegte es sich aber im letzten Augenblick anders. »Verzeihung«, murmelte sie. Es war nicht gerade höflich von ihm, direkt vor einem Durchgang stehen zu bleiben. Man konnte jedoch nie wissen, welchen Rang ihr Gegenüber in seinem Heimatland innehatte und welche Konsequenzen folgten, wenn man sich ihm gegenüber nicht höflich verhielt.
»Serrashil?«, fragte er missgelaunt und zu ihrer Überraschung in ihrer Muttersprache Arkanisch.
»J-ja?«, erwiderte sie in derselben Sprache.
»Ich möchte Euch im Auftrag meines Herren daran erinnern, dass es nicht geduldet wird, wenn sich ein Angehöriger unseres Volkes auf die Seite eines Verbrechers schlägt. An Eurer Stelle würde ich es mir …«
»Serrashil schlägt sich nicht auf die Seite eines Verbrechers, sondern auf die der Wahrheit«, unterbrach ihn eine tiefe Stimme von hinten und Randef trat zwischen sie, wobei er sich fast schon drohend vor dem Mann aufbaute. Er hatte sich ebenfalls der arkanischen Sprache bedient.
»Großmeister Randef, ich …«
»Ich habe vollstes Vertrauen in meine Schülerin und in ihre Aufrichtigkeit. Das solltet Ihr auch haben. Und ich dulde es nicht, wenn jemand, der für die Gerechtigkeit eintritt, von der Obrigkeit mundtot gemacht wird.« Randef wandte sich an Serrashil. »Komm, gehen wir.« Während sie sich in Bewegung setzten, fügte er leiser hinzu: »Du hast Koril verstanden?«
»Äh, ja, habe ich … Wenn auch nur Dank Kie«, fügte sie der Ehrlichkeit halber hinzu.
Ihr Lehrmeister lächelte versonnen. »Unter anderem dafür sind Freunde doch da. Ich wünsche dir viel Erfolg bei deinem Vorhaben.« Sie erreichten eine Weggabelung und er schlug die Abzweigung in Richtung der Großmeisterwohnräume ein, während sich Serrashil und Kie nach links zu den Wohntürmen der Studenten begaben.
»Was habt ihr gesagt?«, fragte Kie neugierig nach. »Der Mann wirkte nicht gerade glücklich.«
»Er wollte wohl verhindern, dass ich mit Carath spreche … oder überhaupt irgendetwas sage, was der Regierung von Arka nicht passt.« Missmutig starrte Serrashil vor sich hin. Hoffentlich hatte das keine weitreichenden Folgen. Randef konnte gut reden, er war zwar gebürtiger Arkaner, würde aber für den Rest seines Lebens in Jadestadt bleiben. Sie würde nach ihrem Studium, das wohl nach diesem Jahr endete, dorthin zurückkehren müssen. Serrashil biss sich auf die Zunge. Nein, falscher Gedanke, ganz falscher Gedanke. Nur nicht daran denken. Wenn sie zurückkehren musste, würde sie Delren und Kie und dem Leben an der Hohen Schule für immer Lebewohl sagen müssen … Seufzend verbannte sie den Gedankengang aus ihrem Kopf. Im Moment musste sie sich darauf konzentrieren, die Wahrheit aus Carath herauszubekommen. Mit allem, was danach kam, konnte sich Serrashil später immer noch auseinandersetzen.
Kapitel 25
Gleich nach dem Mittagessen machte sich Serrashil auf den Weg in die Stadt, um im Verwaltungsgebäude einen Antrag zu stellen, Carath im Gefängnis besuchen zu dürfen. Wie erwartet dauerte es eine Weile, bis sie eine kleine Schriftrolle in die Hand gedrückt bekam, denn in dem palastartigen Gebäude auf der Schattenseite des Hügels, auf dem die Hohe Schule stand, ging alles drunter und drüber. Jetzt, wo Rinartin tot war, wirkte der Verwaltungsapparat von Jadestadt wie ein kopfloses Huhn. In Serrashils Vorstellungen hatte sie den Schulleiter immer irgendwo zurückgezogen über Büchern brüten oder müßiggängig in der Sonne liegen sehen, da man ihn so selten antraf, aber wie ihr nun bewusst wurde, war seine Rolle weitaus wichtiger gewesen.
Mit der Genehmigung in der Hand machte sie sich auf den Weg zum Kerker. Er befand sich nicht weit vom Verwaltungsgebäude entfernt direkt an dem Hügel. Besser gesagt, in dem Hügel. Einem Höllenschlund gleich ragte das Tor mindestens zwei Manneshöhen groß vor ihr auf, flankiert von vier Wächtern und zwei Wachtürmen.
Serrashil trat zu dem Wächter, der ihr am nächsten stand. »Ich habe die Erlaubnis, einen Gefangenen zu besuchen.« Sie reichte ihm die Schriftrolle. Er nahm sie mit einem Nicken entgegen und öffnete. Seine Augen huschten über die Zeilen, wobei sich seine Augenbrauen immer weiter zusammenzogen. »Mir wurde die Erlaubnis erteilt, heute einen Besucher zu dem Gefangenen Carath durchzulassen.« Er rollte die Schriftrolle auf und musterte Serrashil misstrauisch. »Der Besucher war bereits
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