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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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still und mit gesenkten Köpfen.
    Schließlich war die Grube bis über den Rand hinaus gefüllt. Stanhope versuchte den kleinen Erdhügel mit dem Spaten zu glätten, doch die harten Krumen ließen sich nicht zusammendrücken. Da stieg er mit beiden Füßen auf das Grab und stampfte so lange darauf herum, bis der Boden eben war. Einer der Maskierten streckte den Arm aus, als wolle er den Lord von dieser Scheußlichkeit abhalten, ließ dann die Hand aber sinken. Sie alle wussten, was davon abhing, dass der Leichnam niemals entdeckt werden würde.
    Ich schloss die Augen ob dieses Anblicks, und trotzdem kroch die Vorstellung des winzigen Körpers unter Stanhopes Stiefeln in mein Bewusstsein. Kannte dieser Mann denn gar keine Achtung, nicht einmal vor einem toten Kind? Selbst Jade hatte sich voller Grausen abgewandt, und Jakob – nun, Jakob hatte sich entschlossen, einzugreifen.
    Mit einem wütenden Ausruf sprang er auf, schlug Zweige und Äste beiseite und trat aus dem Unterholz auf die Lichtung, mitten unter die fünf Gestalten, die erschrocken auseinander strömten. Vier von ihnen hoben die Arme und verdeckten die maskierten Gesichter mit ihren schwarzen Gewändern. Einen Augenblick zögerten sie noch, dann warfen sie sich herum und flohen. Wenige Augenblicke später waren sie von der Lichtung verschwunden. Ich hörte, wie sie in der Ferne durchs Dickicht brachen.
    Die fünfte Gestalt war Goethe. Im selben Moment, da er Jakob erkannte, zog er die Maske vom Gesicht und nahm den Hut ab.
    »Halt!«, rief er energisch, als Stanhope sich auf meinen Bruder stürzen wollte. »Fassen Sie ihn nicht an!«
    Jakob funkelte die beiden Männer wutentbrannt an. Allerdings zeigten sich auch die ersten Zweifel auf seinem Gesicht. Allmählich schien er zu begreifen, wozu ihn sein Ungestüm verleitet hatte.
    Es half alles nichts – ich musste mich ebenfalls zeigen.
    So stand ich mit einem tiefen Seufzen auf und gesellte mich zu meinem Bruder. Auch Jade verließ ihr Versteck. Als Stanhope sie erkannte, verzerrten sich seine Züge vor Hass, doch Goethes Befehl hielt ihn zurück.
    »Der Quinternio der Großen Fragen!«, spie Jakob dem Dichter und seinem Mordbuben entgegen. »Was für eine armselige Komödie! Die fünf Spitzen des großen Pentagramms! Alles fauler Zauber.«
    »Sie sind aufgeregt«, stellte Goethe betont ruhig fest. Aber ich sah ihm an, dass seine Gelassenheit hinter der kühlen Fassade wankte. »Glauben Sie mir, ich verstehe Ihren Zorn.«
    »Meinen … Zorn?«, entgegnete Jakob atemlos. Sein Arm zeigte auf den niedergetretenen Erdhügel. Er schnappte fassungslos nach Luft. »Ich bin …«
    »Empört, ja, natürlich«, ergänzte Goethe eilig. »Wer das Falsche verteidigen will, hat alle Ursache, leise aufzutreten; wer aber das Recht auf seiner Seite hat, muss derb auftreten, denn ein höfliches Recht will gar nichts heißen.«
    Ich starrte den Dichter mit großen Augen an. »Wie konnten Sie das zulassen?«
    Ehrliche Betroffenheit zeigte sich in Goethes Miene. Sein Haar war in den vergangenen Jahren grau, fast weiß geworden, der Stirnansatz bis hoch auf den Schädel gerückt. Auch sein Doppelkinn war ausgeprägter als dereinst. Tiefe Falten, Spuren von Sorge oder Alter, hatten sich in seine Haut gegraben, und Ringe lagen um seine Augen, als sei sein Schlaf zuletzt nicht mehr der beste gewesen; vielleicht nicht ungewöhnlich für einen Mann von dreiundsechzig Jahren.
    »Es ist eine Katastrophe«, sagte er, »dessen bin ich mir bewusst. Doch was geschah, geschah aus Leichtsinn, nicht aus Vorsatz. Wir sollten uns unterhalten, meine Herren.« Und mit einem Blick auf Jade fügte er hinzu: »Wer ist Ihre zauberhafte Begleiterin?«
    Die zauberhafte Begleiterin fletschte die Zähne vor Widerwillen, sagte aber nichts. Sie hatte nur Augen für Stanhope, den Mörder Kalas und all ihrer Diener. In ihrer Hand lag der Dolch. Noch zögerte sie, ihn zu benutzen.
    »Sie haben ein Kind ermordet!«, fuhr Jakob auf, ohne Goethes Frage zu beachten. »Unter Ihren Füßen liegt sein Leichnam. Und Sie machen Komplimente!« Ich hatte Jakob niemals so entrüstet, so durch und durch erbost erlebt.
    Goethe schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nicht ich habe das Kind getötet, das Wetter war es. Und, zugegeben, meine Leichtfertigkeit spielte auch eine Rolle. Aber bitte, lassen Sie uns in mein Haus gehen. Diese Versammlung hier« – er hielt vergeblich Ausschau nach den übrigen Maskierten – »scheint mir ohnehin bis auf weiteres

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