Die Winterprinzessin
Sie!«
Jakob glaubte ihm kein Wort. »Es wäre nicht das erste Mal, dass Sie höchst großzügig mit dem Leben anderer umgehen, nicht wahr?«
Goethe wollte auffahren, aber im selben Moment wurde mir wieder bewusst, dass Jade noch immer um ihr Leben kämpfte – und um das unsere. Nicht einmal Goethe würde Stanhope jetzt noch aufhalten können, ganz gleich, in welcher Beziehung sie zueinander standen. Ich drehte mich um und lief durch die Bresche, die die beiden Kämpfenden ins Unterholz geschlagen hatten. Jakob kam hinterher, und nach kurzem Zögern folgte auch Goethe. Sein schwarzes Zeremoniegewand verfing sich in den Zweigen. Er riss es sich kurzerhand vom Leib; darunter trug er fellbesetzte Winterkleidung, Mantel und Stiefel.
Als ich aus dem Hain trat, sah ich, dass Jade und Stanhope sich über die verschneite Wiese dem Fluss genähert hatten. Zwanzig Schritte weiter südlich war die Eisschicht aufgebrochen, dicke Schollen hatten sich mancherorts über – und untereinander geschoben. An anderen Stellen klafften sprudelnde Löcher. Die beiden Kämpfer hatten eine breite Spur im aufgewühlten Schnee hinterlassen, hässliche Wunden im Weiß, aus denen Erdreich und tote Gräser quollen.
Jetzt standen sie sich unweit des Ufers lauernd gegenüber, vorgebeugt und mit Blicken wie hungrige Wölfe im Kampf um die Beute. Beider Dolchspitzen wiesen auf den Gegner, immer wieder umkreisten sie sich, bereit, jederzeit vorzuschnellen und den anderen aufzuschlitzen. Beide waren verschwitzt und außer Atem; Stanhope hatte bereits mit dem Spaten eine Schlacht gegen den gefrorenen Boden geschlagen, die Erschöpfung machte sich bemerkbar. Mir schien, als reagiere er auf Jades Attacken weniger prompt und behände als noch zu Beginn ihres Kampfes. Und die Prinzessin machte ihrem toten Lehrmeister alle Ehre; immer wieder stieß sie vor und fügte dem Lord winzige Schnitte und Stiche zu, keine schweren Verletzungen, aber schmerzhaft genug, um den Briten zu schwächen. Auch sie selbst hatte einige Schrammen und kleinere Wunden davongetragen.
Goethe hatte es aufgegeben, die beiden durch Rufe und Zureden zum Einstellen des Kampfes bewegen zu wollen. Fassungslos folgte sein Blick dem Duell. Anders als seine Mitverschwörer machte er keinerlei Anstalten, das Weite zu suchen. Ein Rest von Verantwortungsgefühl fesselte ihn an diesen Ort, ergeben harrte er des Ausgangs des blutigen Zwists.
Mit einer ganzen Serie von Ausfällen und gezielten Stichen brachte Jade den Lord dazu, vom festen Ufer auf das Eis der Um zu wechseln. Behände sprang sie hinterher. Ich glaubte schon, ihren Plan zu durchschauen. Sicher wollte sie ihren Feind bis zu dem Loch in der Eisfläche drängen, um ihn dann in die frostigen Fluten zu stürzen. Zu meinem Erstaunen sah ich jedoch, dass sie es damit nicht eilig hatte oder aber ein gänzlich anderes Ziel verfolgte. Statt den Schauplatz des Kampfes allmählich nach Süden, in die Richtung der knirschenden Schollen zu verlegen, blieb sie in der Mitte des Flusses stehen und ließ sich auch durch Stanhopes Attacken nicht von dort fortbewegen.
Minutenlang ging es vor der nächtlichen Lichterkette Weimars auf diese Weise hin und her, mal gelang es Jade, einen Treffer mit der Klinge zu landen, mal dem Lord. Dabei bewegte die Prinzessin kaum die Füße, fast als sei sie festgefroren.
»Was tut sie da?«, fragte Jakob leise.
»Ich hoffe, zumindest sie selbst weiß es.«
Goethe verfolgte das Geschehen stumm und mit sichtbarem Protest. Nur einmal drehte er sich kurz zu mir um und fragte tonlos: »Und Stanhope hat die Amme wirklich getötet? Das hat er wirklich getan?«
»Ihre Leiche lag zu meinen Füßen«, entgegnete ich widerwillig – worauf der Dichter erneut in bedächtiges Schweigen verfiel.
Mit einer Reihe tückischer Vorstöße versuchte nun Stanhope, die Prinzessin nach Süden zu treiben. Vergebens. Jade wich keinen Schritt zurück, ja, sie nahm sogar einen Hieb gegen ihre Hüfte in Kauf, ohne einen Fingerbreit nachzugeben.
Dann, ganz unerwartet, machte sie blitzschnell einen Sprung nach hinten. Stanhope setzte augenblicklich nach, sah sich schon als Sieger. Seine Stiefel berührten die Stelle, an der gerade noch die Prinzessin gestanden hatte, er holte aus und brach mit beiden Füßen durchs Eis.
Fassungslos weiteten sich seine Augen. Ein Aufschrei entfuhr seiner Kehle. Schon war er bis zu den Lenden im Wasser verschwunden, während seine wedelnden Arme den Dolch verloren. Jade stand nur da und sah zu, wie
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