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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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aufgehoben.«
    »Eine Versammlung von Mördern!«, stieß ich wutentbrannt aus. »Und der schlimmste von allen steht an Ihrer Seite.«
    Stanhopes Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln, doch er sagte nichts. Selbst jetzt noch bewahrte er die gepuderte Arroganz des Adels.
    Goethes Züge verrieten eine gewisse Verwunderung. »Sie urteilen vorschnell, Herr Grimm. Es wurden Fehler begangen, in der Tat. Aber Sie kennen die Gründe nicht. Die Richtigkeit des Gedankens ist die Hauptsache, denn daraus entwickelt sich das Richtige der Tat.«
    Es war mir unerträglich, dass solche Worte an diesem Ort gesprochen wurden, gleich über dem Grab des Prinzen. Gerne hätte ich ihn angeschrien, ihn vor Gott des Mordes, der Lüge und der Schönrednerei angeklagt. Doch ehe ich dergleichen vorbringen konnte, erhielt ich plötzlich einen groben Stoß von hinten, taumelte zur Seite und sah Jade, die an mir vorbei auf Stanhope zusprang, die Klinge hochgerissen, das Gesicht verzerrt vom brennenden Drang nach Vergeltung.
    Sie schrie auf, schrille Worte in ihrer Muttersprache, und ließ den Dolch auf Stanhope herabfahren. Der Lord hatte wohl mit derlei längst gerechnet, denn er federte flink zur Seite, ließ Jade ins Leere laufen und setzte seinerseits nach. Seine Faust streifte die Prinzessin zwischen den Schulterblättern. Jade fuhr herum, kam breitbeinig zum Stehen und durchbohrte Stanhope mit einem Blick, der manch anderen in die Flucht geschlagen hätte. Ihre Klinge zuckte vor, ging jedoch ein weiteres Mal fehl, denn der Lord war bereits aus ihrer unmittelbaren Reichweite getreten. Lauernd standen sich die beiden nun gegenüber, während wir Übrigen an den Rand der Lichtung zurückwichen. Ich hatte entsetzliche Angst um die Prinzessin, doch zugleich wünschte ich brennend, es ihr gleichzutun. Dazu freilich fehlten mir Fertigkeit und Mut.
    »Hören Sie auf!«, rief Goethe den Kämpfenden zu. »Stanhope! Hören Sie sofort auf!«
    Doch weder der Lord noch Jade gaben etwas auf die Worte des alten Mannes. Der Kampf entbrannte von neuem, als sich beide aufeinander stürzten. Etwas blitzte in der Hand des Briten, und mit Schrecken begriff ich, dass auch er einen Dolch gezückt hatte. Schon züngelten die stählernen Klingen. Stanhopes Spitze fuhr über den linken Arm der Prinzessin, zerteilte den Stoff ihres Hemdes und hinterließ einen kirschroten Schnitt. Jade heulte auf, nicht vor Schmerz, sondern aus Erbitterung über ihre Achtlosigkeit. Ihre eigene Klinge glitt mit der flachen Seite an Stanhopes Gesicht vorüber, hinterließ aber dennoch eine blutende Schramme.
    Goethe appellierte weiter an die beiden Kontrahenten, man möge den Kampf doch aufgeben und den Streit mit Worten statt mit Stahl ausfechten. Niemand hörte ihm zu. Die Enge der Lichtung erwies sich immer mehr als Gefahr, nicht allein für Stanhope und Jade, auch für Jakob, mich und den Dichter. Immer wieder mussten wir den Stößen und Schlägen der Kämpfer ausweichen, und gerade wollten wir uns ins Dickicht zurückziehen, da sprang Stanhope seinerseits ins Unterholz und machte sich raschen Schrittes davon. Die Prinzessin setzte ihm auf der Stelle nach, und nur Augenblicke später waren beide verschwunden. Keuchen und Flüche, die von der Wiese außerhalb des Wäldchens herüberdrangen, verrieten, dass das Duell dort weiterging.
    Jakob wandte sich an Goethe. »Wenn es Stanhope gelingt, die Prinzessin zu besiegen, wird er auch Wilhelm und mich töten.«
    Goethe schüttelte den Kopf, aber er war totenbleich geworden. Es war eigenartig, den großen Denker so hilflos zu erleben. »Der Lord ist ein Ehrenmann. Er tötet niemanden, wenn es nicht unbedingt sein muss.«
    Ich lachte auf, obgleich mir die Angst um Jade fast das Herz zerriss. »So wie die arme Amme, nicht wahr?«
    »Die Amme?«, fragte Goethe alarmiert. »Sie ist tot?«
    »Tun Sie nicht so, als ob Sie nicht davon wüssten.«
    »Was reden Sie denn da, meine Herren?« Zunehmende Verwirrung umwölkte Goethes hohe Stirn. »Das alles ist mir gänzlich neu.«
    »So wie die Entführung des Prinzen?«, zischte ich böse. »So wie die Spur von Leichen, die Stanhope auf seinem Weg hinterlassen hat?«
    In jenem Augenblick umgab Goethe wenig von seinem dichterischen Glanz, von der Glorie des famosen Genies. Für einen Moment stand er da wie ein wirrer, geschlagener Greis. Aber schon Sekunden später hatte er sich wieder in der Gewalt.
    »Stanhope hatte niemals den Auftrag, irgendjemanden zu töten. Niemals, hören

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