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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihr Feind in die winterlichen Wogen gerissen wurde. Die Um war nicht tief, doch schon saugte die Strömung den Lord unters Eis. Wenig später war Stanhope verschwunden, verschluckt vom Fluss und endlich besiegt.
    Jade stand noch einen Moment, ihre Hand mit der Klinge zuckte unkontrolliert vor und zurück, nur ganz leicht, als sei der Lord noch immer da, nur unsichtbar; dann schleppte sie sich müde ans Ufer. Sogleich war ich bei ihr und stützte sie. Widerstandslos ließ sie es geschehen. Mein Blick heftete sich auf die Stelle, an der Stanhope eingebrochen war. Der zerborstene Eisrand war dort nur noch einen Fingerbreit dünn. Und als ich Jade nun festhielt und der Wärmezauber, den Kala sie gelehrt hatte, von ihrem Körper auf den meinen überfloss, da wusste ich, was sie getan hatte. Sie hatte das Eis unter sich zum Schmelzen gebracht, so wie sie uns in der Nacht im Wald beide warm gehalten hatte. Am Ende war es Kalas Vermächtnis gewesen, das Stanhope besiegte.
    Jakob und Goethe kamen über die Wiese auf uns zugestolpert. Jade wollte sich von mir lösen und sich mit letzter Kraft auf Goethe werfen, ich aber hielt sie zurück.
    »Gehen wir zu mir nach Hause«, sagte der Dichter leise und mit einem Anflug von Traurigkeit. Er klang mit einem Mal sehr, sehr alt. An die Prinzessin gewandt, fügte er hinzu: »Wenn ich mich nicht täusche, dann habe ich dort etwas, das Ihnen gehört.«
     
    * * *
     
    Dorothea servierte Tee und dampfenden Glühwein und bot gar an, eine Kleinigkeit zu kochen. Jakob und ich lehnten dankend ab, während Jade ohnehin einzig Augen für Goethe hatte, der uns in einem gewaltigen Ohrensessel gegenübersaß. Wir anderen hockten auf einfachen Holzstühlen rund um einen Tisch in Goethes Arbeitszimmer. Darauf standen zwei flackernde Kerzenleuchter. Vor den beiden Fenstern beschien der Mond den winterlichen Garten.
    Nachdem Goethe Dorothea gestattet hatte, sich wieder zu Bett zu begeben, und sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ergriff der Dichter langsam das Wort.
    »Sie halten mich für einen Schurken, und das nicht zum ersten Mal, wenn ich mich recht entsinne.«
    »Auch damals lagen wir damit nicht falsch«, versetzte Jakob böse.
    Goethe nickte. »Etwas Unverzeihliches ist geschehen. Die Ränke einiger alter Männer und Frauen haben Menschenleben gekostet. Sogar das eines unschuldigen Kindes. Das ist grauenvoll und widerwärtig. Aber ich versichere Ihnen, meine Herren, und auch Ihnen, liebe Dame, nichts davon geschah mit meinem Segen. Wenn es stimmt, was Sie über Stanhope sagen – und daran will ich nicht zweifeln, so gern ich es täte –, so handelte er gegen meinen ausdrücklichen Willen.«
    Empört fuhr ich auf. »Man legt eine Mitschuld nicht ab wie eine verschlissene Weste. Aber das muss ich Ihnen kaum sagen, nicht wahr? Ausgerechnet Ihnen! Wer bin ich, Sie über Moral zu belehren.«
    »Das alte Spiel«, erwiderte er düster. »Wann weicht die Moral der Notwendigkeit?« Und dann zitierte er sich selbst, diesmal aus Wilhelm Meister: »Ihr führt ins Leben uns hinein, ihr lasst den Armen schuldig werden, dann überlasst ihr ihn der Pein, denn alle Schuld rächt sich auf Erden.« Er seufzte aus tiefstem Herzen. »Das scheint mir der Preis, der auch mich erwartet.«
    Zwei Stunden waren vergangen, seit wir Goethe ins Haus am Frauenplan gefolgt waren. Dorothea hatte darauf bestanden, Jades zahllose Schnittwunden mit Salben und Medizin zu behandeln. Die Prinzessin ließ es geschehen, weil sie den Hausmittelchen der Dienstmagd vertraute. Einen Arzt hätte sie, dessen war ich sicher, nicht an sich herangelassen. Sie war völlig erschöpft und hatte Schlaf dringend nötig; nur Goethes mysteriöse Andeutung hielt sie noch auf den Beinen. Sie weigerte sich, ihre zerfetzte Kleidung abzulegen, und so hatte Dorothea ihr eine Wolldecke umgelegt, die Jade dankbar annahm. Sie musste Schmerzen haben, und der Blutverlust hatte sie geschwächt. Trotzdem bestand sie darauf, mit uns am Tisch zu sitzen. Dabei übte sie sich in eherner Geduld, denn was immer Goethe mit seiner Bemerkung gemeint hatte, seither hatte er es nicht mit einem Wort erwähnt. Aber Jade drängte ihn nicht. Schweigend wartete sie ab und ließ den Dichter nicht aus den Augen.
    Jakob nahm den Glühweinbecher und wärmte sich die Finger. »Erzählen Sie«, verlangte er.
    Goethe lehnte sich in seinem ledernen Sessel zurück, verschränkte die Hände vorm Bauch und schloss einige Atemzüge lang die Augen. »Ich will mit dem Quinternio

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